Fastenzeit

Auszug aus: Otto Mahr: Das Volkslied im bäuerlichen Jahr der Rhön


Die Fastenzeit bietet keine Gelegenheit zu Zusammenkünften des jungen Volks. Ihr Ernst unterdrückt alles ausgelassene Treiben im Dorf. Es gibt in dieser Zeit keine Tanzvergnügen, kein Zusammensein von Burschen und Mädchen in der Wirtschaft. Das Lied verstummt, und nur ganz leise und gelegentlich blüht es in einem Winkel des Dorfes oder in einer Stube auf.

Einmal sitzt ein achtzehnjähriges Mädchen an einem Aprilabend auf der hohen Steintreppe vor dem Haus und singt:

Liedbeispiel: Was schleicht dort im nächtlichen Walde. Otto Mahr: Das Volkslied im bäuerlichen Jahr der Rhön, Frankfurt a.M. 1939, S. 17f.

Es folgen:

  Liedbeispiele: In des Gartens dunkler Laube und I bin a Steier Bua. Otto Mahr: Das Volkslied im bäuerlichen Jahr der Rhön, Frankfurt a.M. 1939, S. 18.

Liedbeispiel: Durch Zufall lernten wir uns kennen. Otto Mahr: Das Volkslied im bäuerlichen Jahr der Rhön, Frankfurt a.M. 1939, S. 18f.

Von dem zweiten und dritten Lied singt das Mädchen nur eine Strophe. Es sind vier Lieder, die erst seit einiger Zeit im Dorf gesungen werden. Das zweite („In des Gartens dunkler Laube“) war bereits zu Anfang unseres Jahrhunderts in der Jugend lebendig, wenn auch mit anderer Melodie und verändertem Text (50). Gleicher Rhythmus (3/4 Takt) hilft die Lieder binden.

„In dr Foaste“ tritt das weltliche Lied zurück. Das religiöse bestimmt das Singen des Einzelnen. In der Kirche singen alle gemeinschaftlich die Lieder vom Leiden und Sterben Christi, die in ihrer liturgischen Bezogenheit nicht Gegenstand der Volksliedforschung sind. Die Dorfkirche vereint immer dieselben Menschen. Von ihr geht gemeinschaftbildende Kraft aus, wie es im Verhältnis Stellbergs zu seinem Kirchendorf Thalau un zu Altenhof deutlich wird. Drei verschiedene Dörfer werden durch das gemeinsame Gotteshaus zu einer einheitlichen Kirchengemeinschaft gefügt. Das Singen in der Dorfkirche ist Gemeinschaftsgesang. Jeder kennt die Lieder, die in seiner Gemeinde bevorzugt gesungen werden. Die einmal aus dem Diözesangesangbuch getroffene Liedauswahl bleibt oft für lange Zeit gültig, wird Tradition. Auch nicht im Gesangbuch stehende Lieder gehören dazu. Durch jahrzehntelanges gemeinsames Singen bilden sich Abweichungen vom gedruckten Lied, die dann bei jedem Singen verpflichtende Geltung erlangen. Der Text orientiert sich immer wieder an dem gedruckten Wort, die Weise aber nicht, da nur wenige nach Noten singen können. Man singt, wie man es von den Alten hörte. Damit trägt das dörfliche Kirchenlid etwas vom Wesen des Volksliedes an sich (51). Die Orgel der Dorfkirche nimmt Rücksicht auf die Singgewohnheit ihrer gemeinde. Eine neue Gesangbuchauflage mit veränderten Texten und Melodien lebt sich in einem Dorf viel schwerer und langsamer ein als in der Stadt. Erst über die Schule vermag sie sich mit der Zeit durchzusetzen. So steht oft – wie das zur Zeit in Thalau der Fall ist – Altes und Neues nebeneinander. Bei den ältesten Leuten sind zudem noch würzburgische Erinnerungen im Kirchenlied lebendig.

Was am Sonntag in der Kirche in Thalau erklang, wirkt die Woche über im Gesang des Einzelnen nach. Die ältere Generation ist dem Kirchenlied stärker verbunden als die junge. Das Kirchenlied tritt im heutigen Gemeinschaftssingen, dessen Träger die Jugend ist, hinter dem weltlichen zurück. Wahrscheinlich – die Erzählungen der Alten bezeugen es – spielte im Gemeinschaftsgesang früherer Zeit das Kirchenlied eine größere Rolle. Das religiöse Volkslied ist ebenfalls aus dem Singen des jungen Volks geschwunden. Zum Teil hängt das sicher mit dem Verschwinden der Spinnstuben zusammen, in denen vor allem in der Adventszeit das religiöse Lied vorherrschte.

In der Fastenzeit treten die beliebtesten Kirchenlieder aus der Kirche ins Dorf und werden bei der täglichen Arbeit gesungen: „Laß mich deine Leiden singen“(53), „O Haupt voll Blut und Wunden“(54), „Die Seufzer, die du ausgestoßen“(55), „O du hochheil’ges Kreuze“(56), „Himmel und Erd, schau was die Welt“(57) und „Christi Mutter stand mit Schmerzen“(58). Das Palmsonntagslied „Christus, Erlöser und König, dir sei Ruhm und Verehrung und herrliches Lob“(59), das im Wechselgesang bei der dramatisch bewegten Szene des Einlassbegehrens und des feierlichen Einzugs des Prozession in die Kirche gesungen wird, erklingt daheim bis zum Gründonnerstag hin. Dann lebt in der Karwoche noch einmal der Ernst der Fastenzeit auf, bis am Karsamstag das Gloria wieder erklingt und die Glocken zu läuten beginnen. Es ist mehr als ein historisches Erinnern, wenn am Karfreitag Nachmittag die „Klapperjungen“ durchs Dorf ziehen und rufen: „Das ist die Verschiedung Jesu Christi!“ In diesen Tagen wird kein weltliches Lied laut.

Die Klänge des Kirchenliedes „Der Heiland ist erstanden“(60) lösen den Bann langer Wochen in Osterjubel und Frühlingsfreude. Jetzt erst kehrt das Frühjahr recht eigentlich ins Dorf. Jetzt erst freut man sich seiner, am meisten die Kinder und das junge Volk. Morgens finden die Kinder buntgefärbte Ostereier im weichen Moosnest unter der Bodentreppe im „Ern“. Schon Wochen vor Ostern haben sie den Rauch und den Dampf aus der Küche des Hasen auf der Hohen-Kammer aus dem Wald aufsteigen sehen. (Wenn nach Regen Dünste aus dem Wald steigen, sagt man „die Hasen kochen“). Viele haben den „Hasenbrunnen“ dort oben gesehen, das steinerne Becken eines verfallenen Bergbrunnens. Der erste  Ostertag ist „hehrster“ Feiertag im Jahr. Tanz und lautes Wesen vermeidet man. Nur die Kinder springen auf den grünenden Wiesen und „sommen“ (werfen mit Eiern). Die „Sommeier“(61) werden in die Höhe geschleudert. Zwei und zwei stehen sich die Kinder gegenüber und schlagen ihre Eier gegeneinander, zu erproben, welches einen härteren Stoß vertragen kann. Die meisten Burschen und Mädchen bleiben an diesem Tag in der Familie. Viele von ihnen haben als „Pädder“ (Pate) und „Död“ (Patin) einen „Böndel“ zu tragen und werden von Ihren Patenkindern sehnsüchtig erwartet und jauchzend empfangen, wenn sie mit ihrem blendend weißen Bündel in der Gasse erscheinen. Am Ostermontag macht die Jugend am Nachmittag gewöhnlich einen Spaziergang auf das Dammersfeld und besucht anschließend die übliche Tanzmusik in Dalherda. Im Dorf selbst und auch in Thalau ist der Tag für eine Tanzmusik „zu hehr“. Andere katholische Dörfer der Nachbarschaft befolgen diese Sitte nicht mehr so streng.

Der Dammersfeld-Ausflug musste 1936 unterbleiben, denn Karsamstag war Schnee gefallen und selbst Ostern schneite es. Es folgten dann einige schöne Tage, am Ende der Woche aber schneite es nochmals. So erlebten die „Brüdere“ (Bräutchen) einen weißen „Huisetedoag“ (Hochzeitstag). Die Erstkommunion, die am Weißensonntag gefeiert wird, bezeichnet man als Hochzeit. Die weltliche Feier im Familienkreis ist in den letzten Jahren eingeschränkt worden. Mutter und Kommunikant bieten im Nachbarhaus Kuchen und Schnaps an, die Nachbarschaft soll an dem Fest teilhaben.

Durch den Ausfall des üblichen Dammersfeld-Ausflugs schied eine Singgelegenheit aus. Der Weißesonntag bietet kaum Gelegenheit zu gemeinschaftlichem Singen. Tanzmusiken gibt es an diesem Tag nicht. So erklingt außerhalb der Familienfeier, die aber nicht mehr als Singgelegenheit zu gelten hat, kaum ein Lied. Das Wetter machte auch an diesem Tag ein Treffen des Volks im Freien unmöglich. Nur zwei Mädchen kamen am Nachmittag singend von Mittelstellberg her. Sie schlenderten nicht langsam über die Straße, wie das sonst bei Spaziergängen üblich ist, sondern schritten im Marschrhythmus ihres Liedes: „Heute wollen wirs probieren“ (s. S. 12). Mit den letzten Takten dieses Liedes erreichten sie ihr Elternhaus, das Singen verstummte.

Am Markustag (25. April) zieht die erste Bittprozession des Jahres aus der Kirche zum Kreuz auf der Straße zwischen Thalau und Altenhof(62). Stellberg wallt gemeinsam mit den anderen Gemeinden der Kuratie. Gerade in dieser Zeit, sagt der Bauer, bedarf die wachsende Saat des göttlichen Segens. Wie leicht kann ein Frost die Hoffnung eines Jahres zerstören, denn diese Zeit bringt den gefürchteten „Schläjnwenter“ (Zeit der Schlehenblüte).

Anmerkungen:

49) Im gemeinsamen Singen, besonders bei den Burschen, wird die letzte Strophe nicht gesungen. In der Schlusszeile der 6. Strophe singen viele Burschen: „doch das Wildern das lasse ich nicht!“ mit starker Betonung. Diese von einer kräftigen Geste begleitete Zeile wird zum Ausdruck jugendlichen Kraftgefühls. Tatsächlich geht keiner der Burschen wildern. In den Erzählungen der Älteren spielt der Wilderer aber eine bedeutsame Rolle. Noch vor Jahren gab es im Dorf, besonders aber in einigen Nachbarorten, Burschen und Männer, die als Wilderer bekannt waren.

50) Agnes Gewecke-Berg, Alte deutsche Volkslieder. Worte und Weisen aus dem Volksmunde Hessens. Selbstverlag Wetzlos (Kreis Hünfeld) o. J. (1933), S. 6.

51) Das Kirchen- und Wallfahrtslied der fränkischen Rhön zeichnet sich durch viele Schnörkel und Schleifen der Melodie aus.

52) [Fußnotennummer im Original nicht vergeben]

53) Fuldaer Gesang- und Gebetbuch, 25. Auflage, Ausgabe mit Noten, Nr. 66.

54) Ebendort Nr. 71

55) Ebendort Nr. 72 (aus dem Fuld. Gsgb. Von 1778).

56) Ebendort Nr. 79.

57) Ebendort Nr. 69  (aus d. Würzburger Gsgb. Von 1628).

58) Ebendort Nr. 80 (aus Fuld. Gsgb. Von 1778). 

59) Ebendort Nr. 245

60) Ebendort Nr. 85 (aus Fuld. Gsgb von 1778).

61) Aus Holz gedreht und an einer Schnur befestigt.

62) Bis zum Jahr 1915 wallten Stellberg und Thalau getrennt nach Schmalnau. In diesem Jahr heißt es im Verkündbuch der Kuratie S. 196: „Die herkömmliche Prozession nach Schmalnau wird gemäß Verabredung meines Vorgängers mit dem H. Pfr. In Schmalnau nicht mehr gehalten. Statt dieser ist um 9 Uhr eine Bittprozession zum Kreuz auf dem Wege nach Altenhof. Daselbst wird die Litanei von allen Heiligen gebetet und der Wettersegen erteilt. Nach der Rückkehr der Prozession ist das Bittamt.“


Empfohlene Zitierweise:

Mahr, Otto: Das Volkslied im bäuerlichen Jahr der Rhön, Frankfurt am Main: Moritz Diesterweg 1939, S.17-21; in: Forschungsstelle für fränkische Volksmusik, URL http://www.volksmusik-forschung.de/ (01.03.2011)