Geordnetes Chaos?

Geordnetes Chaos?

In der Forschungsstelle für fränkische Volksmusik lagern über 600 Musikinstrumente verschiedenster Art, von denen derzeit 353 in unserer Datenbank zu finden sind. Es gilt, die restlichen Instrumente systematisch zu erfassen und die Datenbestände inhaltlich und formal zu vereinheitlichen. Außerdem wird daran gearbeitet, sämtliche vorhandenen Instrumente fotografisch zu erfassen.

Viele, insbesondere auch in der klassischen Musik verwendete Gruppen von Musikinstrumenten sind auf den ersten Blick identifizierbar, so zum Beispiel Klaviere, Saxophone oder Pauken. Hier in der Forschungsstelle befinden sich jedoch auch Instrumente, deren Klassifikation nicht ganz so einfach ist - oft sind dies Instrumente der "Marke Eigenbau".

Ein ideales Klassifikationssystem muss es ermöglichen, jedes Objekt anhand zahlreicher Unterscheidungsmerkmale eindeutig in eine bestimmte "Schublade" zu stecken. Die Unterscheidungsmerkmale müssen klar definiert und voneinander abgegrenzt sein. Mehrfach-Einordnungen ein- und desselben Objekts sind nicht möglich. Gibt es solch ein ideales Klassifikationssystem für Musikinstrumente?

Meines Erachtens rein theoretisch ja. Ein Problem ist allerdings die Gewichtung (und damit höhere oder niedere Einordnung im System) von Unterscheidungsmerkmalen. Ist bei Blasinstrumenten beispielsweise die Anzahl der Grifflöcher wichtiger als das Material, aus dem sie bestehen? Ist bei Saiteninstrumenten die Anzahl der Saiten wichtiger als die Form des Korpus? Damit zusammenhängend ist die Einordnung von Musikinstrumenten sehr schwierig, die zwei oder mehr gängige Unterscheidungsmerkmale in sich vereinen, z. B. die Teufelsgeige: Chordophon, Idiophon oder beides?

Erste Ansätze für ein Klassifikationssystem gab es schon in der Antike: Der Philosoph, Mathematiker und Musiktheoretiker Nikomachos von Gerasa (ca. 1. bis 2. Jh. n. Chr.) unterschied bereits Saiten-, Blas- und Schlaginstrumente. Die älteste gedruckte Instrumentenkunde stammt von Sebastian Virdung. In seinem Werk "Musica getutscht und außgezogen" erweitert er diese Dreiteilung um Untergruppen. Der berühmte Gelehrte Michael Praetorius (1571-1621) stellte in Band II seines dreiteiligen Werks Syntagma Musicum Tomus die im Frühbarock gebräuchlichen Instrumente sehr detailreich vor.

Der belgische Musikwissenschaftler und Instrumentensammler Victor-Charles Mahillon (1841-1924) unterschied die Musikinstrumente noch genauer nach Art des schwingenden Körpers, wobei sich vier Hauptgruppen ergaben, die bis heute (ergänzt um Elektrophone) Gültigkeit besitzen: Selbstklingende Instrumente (Autophone bzw. heute: Idiophone), Instrumente, deren Tonträger eine Membran bildet (Membranophone), Instrumente, bei denen Saiten schwingen (Chordophone) sowie Instrumente, bei denen eine Luftsäule schwingt (Aerophone).

Darauf aufbauend haben Erich Moritz von Hornbostel und Curt Sachs 1914 ein Klassifikationssystem entwickelt, das bis heute (in erweiterter Form) von den meisten Musikwissenschaftlern verwendet wird. Hauptunterscheidungsmerkmal ist die grundlegende physikalische Art der Tonerzeugung (siehe oben). Jede Hauptgruppe wird nun anhand geeigneter Unterscheidungsmerkmale in weitere Ebenen untergliedert. Um diese Ordnung beliebig weit treiben zu können, wird ein Nummerierungssystem verwendet, das dies ermöglicht. Das soll am Beispiel Xylophon verdeutlicht werden:

> Das Instrument selbst wird in Schwingung versetzt. - Idiophon (Unterscheidung nach Tonerzeugung, Nr. 1)
> Das Instrument wird durch Schlagen in Schwingung versetzt. - Schlagidiophon (Unterscheidung nach Spielweise, Nr. 11)
> Das Instrument wird direkt geschlagen, der Spieler führt eine direkte Schlagbewegung aus (mit oder ohne Hilfsmittel) und kann einzeln unterscheidbare Töne erzeugen. - Unmittelbar geschlagenes Idiophon (Unterscheidung nach Spielweise, Nr. 111)
> Das Instrument wird entweder mit einem nichtklingenden Körper geschlagen oder wird gegen einen solchen geschlagen. - Aufschlag-Idiophon (Unterscheidung nach Spielweise und Bauteilen, Nr. 111.2)
Hier unterteilen Hornbostel/Sachs die Aufschlag-Idiophone weiter nach der Form der Klangkörper (Aufschlagstäbe, -platten, -rohre und -gefäße). Nehmen wir mal an, unser Xylophon besitzt Platten:
> Aufschlagplatte (Unterscheidung nach Form, Nr. 111.22)
> Mehrere Aufschlagplatten sind zu einem Instrument zusammengefasst. - Schlagplattenspiel (Unterscheidung nach Anzahl der Bauteile, Nr. 111.222)

Dieses einfache, aber wirkungsvolle Nummerierungssystem ermöglicht es, diese Untergliederung noch weiter zu treiben; Hornbostel/Sachs haben die Möglichkeiten der Erweiterung und Anpassung ihres Systems explizit erwähnt. Weitere Unterscheidungen können sich z. B. an folgenden Fragen orientieren: Wie groß ist der Tonumfang und in welchem Frequenzbereich liegt er (vgl. Marimbaphon)? Gibt es Resonanzröhren unter den Aufschlagplatten? Wenn ja, in welcher Form und aus welchem Material? Welche Form haben die Aufschlagplatten? Und in unserem Beispiel entscheidend: Aus welchem Material bestehen die Platten? Die aus dem Griechischen stammende Vorsilbe "xylo-" bedeutet nämlich nichts anderes als "holz-". Streng etymologisch gesehen ist also allen Xylophonen zumindest gemein, dass ihre Klangkörper aus Holz bestehen.

Eng mit der Typologie verbunden ist die Terminologie: Welche Termini bezeichnen Instrumente, welche bezeichnen Instrumentengruppen? Sind Klarinetten eine Instrumentengruppe (die A-Klarinetten, B-Klarinetten usw. beinhaltet), oder ist die Klarinette ein eigenständiges Instrument? Wie weit möchte man die Unterteilung treiben? Zudem gibt es, abhängig von Land, Region, Sprache, Dialekt oder Zeit, sehr oft mehrere Bezeichnungen für ein und dasselbe Instrument. Musikwissenschaftlich gesehen sind Xylophone Aufschlagidiophon-Spiele; im Volksmund werden sie auch als Holzharmonikas oder Hölzerne Gelächter bezeichnet.

Eine etwas andere Herangehensweise verfolgt Hans Heinz Dräger in seiner 1948 veröffentlichten Systematik: Er formuliert die Unterscheidungsmerkmale von Musikinstrumenten deutlich abstrakter und ordnet sie in neun Hauptkategorien mit weiteren Unterteilungen an:

1. Äußere Kennzeichnung (Funktion, Verhältnis, Form, Material, Zahl der Bestandteile des Instruments)
2. Tonerzeugung (siehe die Hauptkategorien bei Hornbostel/Sachs)
3. Ein- und Mehrstimmigkeit
4. Musikalische Beweglichkeit (Beteiligung der menschlichen Organe)
5. Tondauer, dynamische Ergiebigkeit, Lautstärke
6. Umfang, Melodiegestaltung (Ambitus, Töne, Skalen)
7. Registerreichtum (bei Instrumenten mit mehreren möglichen Klangfarben)
8. Klangfarbe (verbal oder durch klanganalytische Messungen darstellbar)
9. Person des Spielers (wenn das klangliche Ergebnis durch die Spielweise von dem anderer Spieler erheblich abweicht)

Während bei Hornbostel/Sachs die Rangordnung der Unterscheidungsmerkmale zuweilen subjektiv oder am vorhandenen Instrumentenbestand ausgerichtet ist, strukturiert Dräger alle wichtigen Unterscheidungsmerkmale streng analytisch. Möchte man dieser Klassifikation ein Musikinstrument zuordnen, muss man alle Kategorien und Merkmale durchgehen und die jeweiligen Merkmals-Ausprägungen eintragen.

Es gab noch einige weitere Versuche, Klassifikationssysteme für Musikinstrumente zu entwickeln. In der Instrumentenkunde am gebräuchlichsten ist jedoch das System von Hornbostel/Sachs, das um die Klasse (Art der Tonerzeugung) der Elektrophone erweitert wurde und dank seines flexiblen Nummerierungssystem genügend Raum für Erweiterungen lässt.

Christoph Meinel

Literatur:

> Agricola, Martin: Musica instrumentalis deudsch. Wittemberg [heute: Lutherstadt Wittenberg]: Georg Rhau 1529.
> Baines, Anthony: Lexikon der Musikinstrumente. Stuttgart: Metzler / Kassel: Bärenreiter 1996.
>
Dräger, Hans Heinz: Prinzip einer Systematik der Musikinstrumente. Kassel: Bärenreiter / Stuttgart: Metzler 1948. [Musikwissenschaftliche Arbeiten, hg. von der Gesellschaft für Musikforschung, 3]
> Heyde, Herbert: Grundlagen des natürlichen Systems der Musikinstrumente. Leipzig: Deutscher Verlag für Musik 1975. [Beiträge zur musikwissenschaftlichen Forschung in der DDR, 7]
> Hornbostel, Erich Moritz von und Curt Sachs: "Systematik der Musikinstrumente. Ein Versuch." In: Zeitschrift für Ethnologie XLVI 1914, S. 553-590.
> Mahillon, Victor-Charles: Catalogue descriptif et analytique du Musée instrumental (historique et technique) du Conservatoire royal de Musique de Bruxelles. Brüssel: Les Amis de la Musique 1978. (Erstausgabe: Gent: Ad. Hoste 1893-1922).
> Niemöller, Klaus Wolfgang (Hg.): Musica getutscht. Kassel: Bärenreiter 1970. [Documenta musicologica 31] Faksimile-Nachdruck des Drucks "Musica getutscht und außgezogen" von Sebastian Virdung, Basel 1511.
> Praetorius, Michael: Syntagma musicum. Kassel: Bärenreiter 1958-59.
> Stauder, Wilhelm: Taschenbuch der Musikinstrumente. München: Humboldt-Taschenbuchverlag [s.a.]. [Humboldt-Taschenbuch 70] Erstausgabe: Berlin: Gebrüder Weiß Verlag 1963.
> Steinmetz, Horst und Armin Griebel: Volksmusikinstrumente in Franken. Ausstellung im Freilandmuseum des Bezirks Mittelfranken in Bad Windsheim 17. 9. bis 2. 11. 1983. München / Bad Windsheim: Delp'sche Verlagsbuchhandlung 1983. [Schriften und Kataloge des Fränkischen Freilandmuseums, hg. von Konrad Bedal im Auftrag des Bezirk Mittelfranken]
> Van der Meer, John Henry: Musikinstrumente. Von der Antike bis zur Gegenwart. München: Prestel-Verlag 1983.


Kommentare (2)

  1. Nadine:
    08 Jul 2012 um 14:07

    Sehr schöner Artikel für einen guten Überblick,bei dem vor allem die Unterschiede zwischen den jeweiligen Systematiken klar verdeutlicht wurden!
    Es fehlen meiner Meinung nach aber noch Agricola und Heyde!

  2. Christoph Meinel:
    09 Jul 2012 um 09:07

    Vielen Dank für Ihre Kritik. Damit der Blog nicht zu lang wird, habe ich diese beiden von Ihnen erwähnten und auch einige weitere Klassifikationsversuche "unterschlagen". Aber Sie haben natürlich Recht, diese beiden Musiktheoretiker sollten nicht unerwähnt bleiben.

    Das erstmalig 1529 erschienene Lehrbuch "Musica instrumentalis deudsch" von Martin Agricola (1486-1556) enthält zahlreiche Tabellen, Abbildungen und Texte, die einen guten Überblick über Aussehen, Stimmung und Spielweise der in Deutschland im frühen 16. Jahrhundert gebräuchlichen Musikinstrumente geben.
    Die Literaturliste habe ich entsprechend ergänzt.

    Herbert Heyde (*1940) unternahm - wohl mit Drägers Systematik als Anreiz - den ersten Versuch eines natürlichen Klassifikationssystems, bei dem die Musikinstrumente einheitlich im Hinblick auf ihre Struktur und physikalische Funktionsweise (Tonerzeugungsprozess) analysiert werden. Heyde stellt die Musikinstrumente als Blockschaltbilder dar, was zwar wenig praxistauglich ist, aber die Instrumente systematisch sehr gut vergleichbar macht.


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