„Wie die Alten?“ Volksmusikalischer Umgang mit Neuem

„Wie die Alten?“ Volksmusikalischer Umgang mit Neuem

Eine verbreitete Praxis früherer Tanzkapellen bestand darin, Tanzstücke (Walzer, Schottisch, Polka, Galopp) zu aktualisieren, indem man das Trio gegen eine modische populäre Melodie austauschte. Bekannt ist T. W. Thurbans „Brooklin Cake-Walk“ von 1899, der als Schlagermelodie vor und nach dem Ersten Weltkrieg in tradierte Stücke „eingewandert“ war und als „Automobil-Schottisch“ oder -Galopp gespielt wurde. Entsprechende Trios, die uns in Notenhandschriften begegnen, lassen solche Tauschaktionen vermuten.

Ein Glücksfall sind daher zwei Schellackaufnahmen, die dies an einem anderen Besipiel dokumentieren. Sie stammen beide von der „Oberlandler Bauernkapelle Toni Schmidt“, Nürnberg, und sind kurz hintereinander entstanden.

Bei der ersten Aufnahmesitzung 1923 spielte die Kapelle Schmidt einen Rheinländer mit dem Titel „Auf der Ansbacher Höh“ ein (Isiphon Concert Record 465; 6342; FFV_DAT_0019_03). Kurz darauf (gleiche Aufnahmesitzung?) nahmen die Musiker das gleiche Stück noch einmal auf und ersetzten das Trio durch die Refrainmelodie des aktuellen Tanzschlagers von Artur Werau (1887-1931) „Wenn ich dich seh‘, dann muss ich weinen!“ Den Text dazu (hier nicht zu hören) hatte der berühmte Wiener Schlagertexter und Librettist von Lehar-Operetten, Dr. Fritz Löhner „Beda“ (geb. 1883, ermordet in Auschwitz 1942) verfasst.

Auf der Platte heißt der Titel nun: „Wiedersehn im Hochgebirg, Jux-Bauernpolka“ (Isiphon Concert Record 459; 6350; FFV_DAT_0019_11, zu finden auf der CD der Forschungsstelle: Fränkische Volksmusik. Eine Dokumentation). Die beiden Versionen der Teile A und B bieten Gelegenheit, improvisative Veränderungen im Spiel (bes. der Trompete) zu studieren, die sich zwischen den beiden Aufnahmen ergeben hatten. Offenbar wurde nicht ein notiertes Arrangement gespielt. Man kann hören, wie mit dem neuen Trio auch die rhythmische Auffassung des neuen Tanzes einfloss. Welche Beweggründe es waren, diesen Rheinländer mit einem Shimmy- oder Foxtrot aufzufrischen, wissen wir nicht. Möglicherweise wollte man unterschiedliches Publikum ansprechen.
Der Vorgang zeugt von einer Unbefangenheit in der Adaption von Neuem und Andersartigem, die bis dahin für die Kompositionspraxis der Volksmusik üblich war: schöpferische Aneignung musikalischen Materials, konträr zu heutigen rigiden Urheberrechtsvorstellungen. Das änderte sich in den folgenden Jahren gravierend. Spätestens in der NS-Zeit wurde Modisches suspekt, Neues und Fremdartiges als unvereinbar mit dem Wesen der Volksmusik verpönt. Die Ideologisierung der Volksmusik brachte völkische Ideen von Artgemäßheit und Reinheit ins Spiel, die seither für unsere Vorstellungen von Volksmusik bestimmend blieben.

Armin Griebel


Kommentare (1)

  1. Dr. Dieter H. Meyer:
    02 Jul 2015 um 10:07

    "modernes" Trio in alten Stücken
    sehr geehrter herr dr. griebel,

    ich habe in meiner sammmlung drei einschlägige aufnahmen, die ich Jhnen bekannt machen wollte, falls Sie sie nicht schon haben:

    1. Walhalla 2028 AR (Matr. AR 31)
    Frisch voran! Galopp (Trio: "Mariechen du süßes Viechen", Polka von Sterny-Courquin)
    Erste fränkische Bauernkapelle Dorn, Happurg
    und 2. Walhalla 2174 AR (Matr. AR 138)
    Du hast so was! Schottisch (Trio "Puppchen du bist mein Augenstern" aus "Puppchen" von Jean Gilbert)
    3. Walhalla 2175 AR (Matr. AR 139)
    Liebes-Polka (Trio: Komm in meine Liebeslaube, Orig. Ev'ry little moment, aus Karl Hoschnas Operette "Madam Sherry")
    Stadtkapelle Scheuernstuhl, Gunzenhausen

    Mit freundlichem Gruß und den besten Wünschen für Ihre Arbeit
    D. Meyer, Nürnberg


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