Urgroßvaters Harfe

Der Musikant und Küfer Otto Miltenberger (1860-1939) mit seiner Harfe in den 1930er-Jahren
Der Musikant und Küfer Otto Miltenberger (1860-1939) mit seiner Harfe in den 1930er-Jahren

Für uns ist er kein Unbekannter, der Küfer und Harfenspieler Otto Miltenberger (1860-1939) aus Rück. War er doch einer der Gewährsmänner von Hans von der Au, jenem evangelischen Pfarrer und Tanzforscher, der in den 1930er-Jahren zusammen mit Richard Wolfram und Karl Horak zu den wichtigen Vertretern der deutschen (völkischen) Volkstanzforschung zählte und Volkstänze im Spessart und der Rhön aufzeichnete. (Zu Hans von der Au siehe https://volksmusik-forschung.de/forschung-service/aufsaetze/Fränkischer-volkstanz-zwischen-reformbewegung-und-szenetreff.html und https://volksmusik-forschung.de/forschung-service/aufsaetze/antisemitismus-auf-dem-tanzboden.html) Von Otto Miltenberger stammen die Melodien zum »Kriegser«, zum »Geh-Rheinländer« und zum »Hupsa-Walzer« in von der Aus Sammlung »Volkstänze aus dem Spessart« (Kassel 1938 = Deutsche Volkstänze 39/40). Auch im Aufsatz »Geschicklichkeitstänze im rhein-nassauischen Raum« in der Zeitschrift »Volk und Scholle« (Band 16, 1938, Heft 6, S. 182-185) verweist Hans von der Au auf seinen Gewährsmann Otto Miltenberger, von dem er einen Steckentanz aufzeichnen konnte: »Den Steckentanz zeigte mir der Bauer und Küfer Otto Miltenberger in Rück im Elsavatal, ein Musiker besonderen Formats. Er hat ihn als Junge Ende der 60er Jahre einem hochbetagten Rücker, dem „alten Velte“ abgesehen, der ihn damals noch als einziger bis in sein letztes Lebensjahr mit großer Geschicklichkeit gegen ein Trinkgeld oft tanzte. Die Melodie dazu verdanke ich ebenfalls meinem Vortänzer. Beim Steckentanz handelt es sich um eine einfache Form eines Geschicklichkeitstanzes, der als „Spanltanz“ nicht nur im südostdeutschen Raum, sondern in ganz Europa weit verbreitet ist.« (zitiert nach: Griebel, Armin: Hans von der Au als Tanzsammler und Tanzforscher, in: Bezirk Oberbayern (Hg.): Auf den Spuren der musikalischen Volkskultur in Worms, im Odenwald, in Heidelberg und in Schnait. München 2017, S. 384. (= Auf den Spuren von ... 30).

Über die lokale und regionale Bedeutung Otto Miltenbergers gibt ein Nachruf in der Lokalzeitung vom Dezember 1939 Auskunft: »Wohl selten bewegt sich so ein Trauerzug durch ein Dorf, wie ihn am Samstag Rück erleben durfte. Galt es doch einem Manne das letzte Geleite zu geben, der sowohl als Küfermeister wie auch Musikkünstler u. Sänger weit über die Grenzen seines Heimatortes hinaus bekannt war. … Als Komponist und Musiker, als Sänger und Chorleiter stand ihm ein reiches Arbeitsfeld offen. Jahrelang leitete er die Musikkapelle Rück, die unter seiner Stabführung eine Blütezeit erleben durfte. Bei vielen jungen Leuten lenkte der Meister der Töne die musikalische Begabung in die rechte Bahn und manche Musikkapelle verdankt ihre Entstehung dem Meister Miltenberger. Auch als Harfenspieler brachte es der Künstler zu ungeahnter Höhe, sodaß sein Ruf selbst bis zu den höchsten Stellen des hessischen Staatskonservatoriums drang. Geht doch das Harfenspiel in dieser Familie auf Generationen zurück. Ganz besondere Verdienste erwarb sich der Verstorbene auf dem Gebiet der kirchlichen Kunst. Jahrelang leitete er in uneigennützigster Weise den Kirchenchor Rück und führte mit größtem Erfolg die schwierigsten Chöre zur feierlichen Gestaltung der Festgottesdienste auf …«

Der versierte Musikant Miltenberger hatte den Tanzsammler von der Au offenbar stark beeindruckt, denn er widmete ihm 1941 posthum den Beitrag »Die Harfe noch heute Volksinstrument im Spessart« in der Zeitschrift »Mainfranken«. Die Grundlagen Otto Miltenbergers musikalischer Erziehung »legte das Elternhaus, in dem damals alle Glieder der Familie musikalisch tätig waren. Besonders ist hier des eifrig gepflegten Harfenspiels zu gedenken, das in der Familie einst vom „alten Löwenwirt“ in Kleinwallstadt zugleich mit dem Bau der Instrumente um die Mitte des 18. Jahrhunderts übernommen worden war«, teilte Hans von der Au mit und berichtete weiter:  »Bereits vor seiner Militärzeit leitete er eine Kapelle, sowohl Streich- wie Blasinstrumente, die er allesamt meisterlich beherrschte. Bei der Militärkapelle des Würzburger Infanterieregiments war er willig anerkannter Meister auf der Trompete. Hinterher kehrte er in die Heimat zurück und hat dort über ein halbes Jahrhundert neben seinem Küferberuf als Musiker gewirkt. Es ist erstaunlich, wie häufig bei Kapellen im West- oder Hochspessart sein Einfluß festzustellen ist, sei es, daß er Leute angelernt hat, sei es, daß er die nötigen Noten in der jeweils geforderten Besetzung geschrieben hat mit seiner reinlich sauberen Schrift. Aber auch in den östlichen Odenwald, vor allem ins Mümlingtal bis hinauf nach König reichen bis in die Gegenwart seine Spuren.« (Au, Hans von der: Die Harfe noch heute Volksinstrument im Spessart. Otto Miltenberger zum Gedächtnis, in: Mainfranken, 27. Jg., Heft 2, 1941, S. 20-21.)

Leider lassen sich zu diesen Informationen derzeit ohne intensive Archivforschung keine Quellen finden, weder zum »alten Löwenwirt« aus Kleinwallstadt, noch zum dortigen Harfenbau oder zur Dienstzeit Miltenbergers bei der Würzburger Militärmusik. Auch die Umstände, unter denen von der Au auf Miltenberger aufmerksam wurde und wie die Befragungen, das Vortanzen, eventuell Vorspielen stattfanden, sind derzeit nicht geklärt. Die Harfe Otto Miltenbergers dagegen kam mit dem Nachlass von Fred Schecher (1924-2010), einem Enkel Miltenbergers, an die Forschungsstelle für fränkische Volksmusik.

Armin Hartig, Ilse Miltenberger, Otto Miltenberger (sitzend an der Harfe), Marga Hartig, Evi Happel und Alfred Happel haben sich mit Heidi Christ um Otto Miltenbergers Harfe versammelt.

Armin Hartig, Ilse Miltenberger, Otto Miltenberger (sitzend an der Harfe), Marga Hartig, Evi Happel und Alfred Happel haben sich mit Heidi Christ um Otto Miltenbergers Harfe versammelt.

Letzte Woche durften wir vier Urenkel von Otto Miltenberger bei uns begrüßen. Sie informierten sich nicht nur über unsere Forschungsstelle, sondern vor allem über den Nachlass ihres Urgroßvaters. Die Geschwister Evi Happel, Alfred Happel und Marga Hartig (alle Elsenfeld-Rück) hatten ihrem Cousin Karl-Wilhelm Miltenberger und seiner Frau Ilse (Ludwigsau-Mecklar) anlässlich ihrer Goldenen Hochzeit den Ausflug nach Uffenheim geschenkt. Ein erster Höhepunkt der Führung durch unsere Räume war natürlich Urgroßvaters Harfe, die deutlich sichtbar aus unserer Instrumentensammlung herausragt. Es handelt sich dabei um eine 33-saitige Hakenharfe, »ein Instrument, bei dem die diatonische Grundstimmung kraft drehbar am Hals neben den Saiten angebrachter Haken verändert werden kann (Erhöhung um einen Halbton). Diese Vorrichtung sollen Tiroler Volksmusikanten im 17. Jahrhundert erfunden haben.« (Zingel, Hans Joachim: Lexikon der Harfe. Laaber 1977, S. 77), die wohl um die Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut wurde. Zingel erwähnt in seinem Lexikon auf Seite 168 – wohl in Kenntnis des oben zitierten Aufsatzes »Die Harfe noch heute Volksinstrument im Spessart« – auch Miltenberges Harfe: »Spessart. Im Dorf Rück/Spessart vertrat bis 1939 Otto Miltenberger eine dörfliche Tradition: er spielte auf einer Harfe ohne Mechanik.« Nach Otto Miltenbergers Tod kam die Harfe über dessen Tochter Eva, verheiratete Schecher, an deren Sohn Fred Schecher.

Für die Rundfunksendung »Die Spessarter Bauernharfe. Erinnerungen an den Volksmusiker Otto Miltenberger † 1939« wurde die Harfe durch den SDR Stuttgart 1955 wieder spielbar gemacht und Fred Schecher musizierte darauf »Urgroßvaters Harfenwalzer«, den er 1938 als 14-Jähriger notiert hatte. Angeregt hatte diese Sendung wiederum Hans von der Au. Eva Schecher erzählte dabei als 55-Jährige rückblickend vom Musikmachen im Elternhaus.

»Die Tochter charakterisiert den Vater als versierten Musiker, der „alle Instrumente“ spielen konnte, am besten die Trompete, aber sein Lieblingsinstrument sei die Harfe gewesen. Dann kommt sie auf die familiäre Situation zu sprechen: „Wir waren sechs Geschwister, lauter Mädchen und mein Vater hat oft im Spaß gesagt: ,Wer viel’ Weibsleut’ hat und viel’ Gaaß [Geißen], der ist ärmer als er waaß [weiß].’ Aber gern hat er uns doch alle miteinander gehabt. Drei von uns Mädchen haben auch beim Vater Musik spielen gelernt, das Malehen hat Zither gespielt, die Marie Geige und ich Geige und Klavier noch dazu. Und wenn ein Fest war, eine Hochzeit oder sonst ein Familienfest, da hat man uns halt immer geholt. Und die Leut’ haben immer viel Beifall ’geben, wenn unser Vater mit uns drei uffmarschiert ist und Musik gemacht hat. Wir Mädchen haben aber damals um 9 Uhr heim gemüsst, weil’s der Pfarrer so haben hat wollen. Nachher hat halt der Vater allein weiter gespielt. Ja und gesungen haben wir alle sechs. Drei haben erste Stimme gesungen und drei zweite Stimme … Wir waren natürlich nicht immer dabei, beim Musikmachen, wir Mädchen. Aber, wenn ein Musikant gefehlt hat, da sind wir immer eingesprungen und haben mitgespielt. Ich hab zum Beispiel von einer Kerb [Kirchweih] zwei Mark fünfzig Pfennig ’kriegt fürs Spielen. Aber das war damals viel Geld.“
Wir haben in dem Statement ein Stück inszenierte Authentizität vor uns. Das Manuskript zur Sendung hatte der Aschaffenburger Schriftsteller und Journalist Franz Schaub (1914-2002) erstellt, der auch für die Betreuung der „Außenaufnahmen“ in Rück verantwortlich war. Es basiert im Wesentlichen auf von der Aus Aufsatz über Otto Miltenberger und Zeitungsausschnitten über sein Wirken, die der Musiker selbst aufgehoben hatte.?Das Hörbild wurde Anfang 1956 vom Südfunk Stuttgart in der Reihe Heimatpost gesendet, Titel: Die Spessarter Bauernharfe. Dass Miltenbergers Töchter mehrere Tage hintereinander zum Tanz aufspielten, wie angedeutet, war wohl die Ausnahme. Sie wurden nicht regulär eingesetzt, sondern waren gefragt, wenn ein Musikant fehlte. Dann aber sprangen sie zuverlässig ein. Der Pfarrer, dem in dieser Zeit die amtliche Schulaufsicht oblag, erscheint in der Erzählung als Sittenwächter. Nicht nur er forderte die Einhaltung der Ordnung. Auch der Vater hatte ein Interesse daran, seine Töchter nicht dem Gerede auszusetzen. Dörfliche Sitte und bürgerliche Anstandscodes gestatteten Frauen das öffentliche Musizieren zum Tanz im Spessartdorf nur ausnahmsweise unter strengen Regeln.
Wir wissen nicht, ab wann Eva Miltenberger mit dem Vater (und den Schwestern) öffentlich aufgetreten ist. Eine Notiz in der Lokalzeitung berichtet vom Auftritt Miltenbergers mit einer seiner Töchter beim Barbarafest der Bergleute im Nachbardorf Mechenhard, am 4. Dezember 1906: „Den musikalischen Teil im Laufe des Tages füllte in der Hauptsache der allbekannte, tüchtige Musikmeister Herr Otto Millenberger-Rück mit seinem Töchterchen mit Zither und Violine zur vollsten Zufriedenheit aus. Stürmischer Beifall belohnte jedes Stück. Ganz besondere Anerkennung fanden die Gesangsvorträge mit Zitherbegleitung des Meisters. Geradezu Staunen erweckte die melodische, weiche Stimme und das sichere Auftreten des erst 13 Jahre alten Mädchens….“
Der Name der Tochter wird bezeichnenderweise nicht genannt. Wir schließen, dass es Evas Geige spielende Schwester Marie war. Eva Schechers Mann erzählt in der Sendung, dass er mit anderen Frauen tanzte, wenn sie „oben auf dem Orchester“ saß und Violine spielte. Damit ist die Zeit ihrer Verlobung in den frühen 20er-Jahren gemeint. Nach ihrer Heirat hatte das Musizieren in der Öffentlichkeit für die 23-Jährige ein Ende gefunden.
„Titelheld“ der Sendung 1956 ist eine alte Harfe. Das mit Haken umstimmbare Instrument, im 18. Jahrhundert auch für Wirtshausunterhaltung gebräuchlich, wird in der Sendung zur „Bauernharfe“. Als Wirtshausinstrument ist die Hakenharfe, anders als die Konzertharfe, eher männlich konnotiert. Vielleicht haben deshalb weder Miltenbergers jüngste Tochter Eva, der wir hohe Musikalität unterstellen, noch die anderen Töchter die Harfe gespielt, schon gar nicht zur Hausmusik. Der Sender hatte das seit Miltenbergers Tod vernachlässigte Instrument richten und neu besaiten lassen. Evas Sohn, der Lehrer, Musiker und Chorleiter Fred Schecher (1924-2010), war als Kind vom Großvater in die Anfangsgründe des Harfenspiels eingewiesen worden. Er studierte extra für die Sendung zwei kleine Stücke auf dem Instrument ein. Bei den Radiohörern, die diese Zusammenhänge nicht kannten, mochte so der Eindruck einer blühenden Hausmusik-Tradition im Spessart entstanden sein.« (Griebel, Armin: Frauen in der tradierten Musikpraxis auf dem Land im 20. Jahrhundert, in: Österreichisches Volksliedwerk (Hg.): Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes, Band 66. Weitra 2017, S. 41-43.)


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