Unerfahrenheit, Unkenntnis, Fehleinschätzung, Instrumentalisierung

Foto von Darius Sankowski auf Pixabay
Foto von Darius Sankowski auf Pixabay

In den letzten Wochen und Monaten beschäftigten uns verschiedene Anfragen, die allesamt unter dem Motto "Achtsamkeit im Umgang mit Volksmusik" zusammengefasst werden können. Vielleicht stellen Sie sich ähnliche Fragen oder haben entsprechende Beobachtungen gemacht?

Jemand fragt, ob die Forschungsstelle bei der Notensuche helfen könnte. In einem Youtube-Video habe ein Freund den Titel »Reserve hat Ruh« gesehen und möchte »einen Teil davon« selber musizieren. Im Film marschieren singende Wehrmachtsoldaten, unterlegt ist – so legt es die Recherche nahe – das »Reservistenlieder-Marschpotpourri«, auf Schellackplatte eingespielt in der Bearbeitung von Götz Höhne von Musikdirektor Carl Woitschach mit seinem Blas-Orchester und Chor auf dem Label Gloria G.O. 27 264 a. Mittlerweile ist das betreffende Video nicht mehr verfügbar, weil – so meldet Youtube unter dem Link – »das mit diesem Video verknüpfte Youtube-Konto gekündigt wurde«. Dies verwundert insofern nicht, als die Durchsicht weiterer Videos und die darunter geposteten Kommentare auf diesem Konto doch recht deutlich in die rechte Szene verweisen. Für das Potpourri hat der bekannte Orchesterleiter und Filmkomponist Otto Dobrindt (hier unter einem seiner vielen Pseudonyme agierend) die Lieder »Stimmt an mit hohem hellen Klang« (Text: Matthias Claudius 1772, Melodie: Albert Methfessel 1811) und »Bald scheiden wir aus diesem Kreise und legen ab den Ehrenrock« (vgl. »Steyerisches Rasplwerk« von Konrad Mautner, 1910 aus Gössl am Grundlsee aufgezeichnet) mit den (angeblich um 1908 entstandenen), vom überlieferten Lied abgetrennten Refrain »Reserve hat Ruhe, und wenn Reserve Ruhe hat, dann hat Reserve Ruh!« verbunden. Aufgrund der Matrizennummer ist davon auszugehen, dass die Aufnahme um 1936 entstand, als Otto Dobrindt bereits das Unterhaltungsorchester des Deutschlandsenders leitete. Wir haben also angeboten, dass wir für die beiden im Potpourri verwendeten Lieder Noten zur Verfügung stellen könnten, aber auch darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Titel um ein NS-Machwerk handelt und dieses im Youtube-Video auch ganz in diesem Sinne im 21. Jahrhundert verbreitet worden war. »Als ich meinem Freund am vergangenen Dienstag näheres über Deine Ausführungen zum gewünschten Lied erzählt habe, war er so betroffen, dass er gar keine Freude mehr an dem Stück hat.«

Gleich zwei unterschiedliche Gruppen möchten Liederbücher erstellen und fragen, welche Informationen wir zu den ausgewählten Liedern beisteuern könnten, etwa Komponist, Texter, Entstehungszeit oder zu beachtende Verwertungsrechte. In beiden Sammlungen findet sich das sogenannte Fallschirmjägerlied »Auf Kreta bei Sturm und bei Regen«. Das Internet ist voll mit entsprechenden Liedbelegen und Diskussionen darüber, wer das Lied in welchem Militärdienst zu welchen Gelegenheiten gesungen habe, in welchen Liederbüchern es enthalten und ob es verboten sei. Fakt ist, dass dieses Lied 1941 entstand, nachdem die deutschen Truppen auf Kreta gelandet waren und dort furchtbare Kriegsverbrechen begangen hatten. Eine Gruppe hat das Lied sofort aus der geplanten Veröffentlichung gestrichen und uns mitgeteilt, man habe die Liedgeschichte nicht gekannt. »Auch wenn es [das Fallschirmjägerlied] sich in den letzten Jahren auch stark in Bierzelten, in zahlreichen anderen 2019er Liederheften … und auch bei uns breit gemacht hat, so wollen wir unsere Linie durchgängig im Liederheft durchziehen«, hieß es. Bereits in der Vorgängerversion des Liederheftes sei aufgrund des historischen Kontextes das »Panzerlied« (Ob’s stürmt, ob’s schneit, ob die Sonne uns lacht) nicht abgeruckt worden.

Der Kapellmeister kommt dem bezahlten Wunsch eines Gastes nach und intoniert auf einer fränkischen Dorfkirchweih mit seiner Kapelle den Badonviller Marsch (Armeemarschsammlung II, 256). Georg Fürst (1870-1936), Spross der Feuchtwanger Musikerdynastie Fürst, hatte den Marsch – angeblich unmittelbar – nach dem Gefecht seines Regiments, des Bayerischen Infanterie-Leibregiments, beim lothringischen Badonviller vom 12. August 1914 komponiert, bei dem der Ort niedergebrannt, Zivilisten erschossen und gefangen genommen wurden. Adolf Hitler schließlich ließ sich den Marsch, der nun den eingedeutschten Namen Badenweiler Marsch erhalten hatte, per Polizeiverordnung vom 14. November 1938 exklusiv für »Veranstaltungen, an denen der Führer teilnimmt, und nur in seiner Anwesenheit« reservieren. Verboten wurde der Badonviller Marsch nach 1945 nicht, gleichwohl verzichten Bundeswehr- und Polizei-Musikkorps auf die Aufführung und Gerichte erkennen an ihm eine historische Belastung. Der Kapellmeister, der den Marsch nach eigener Aussage auch nicht gern spiele, hätte nie gedacht, dass der Marsch so hohe Wellen schlagen würde. Allerdings hatte die Kapelle nicht nur die Noten parat, sondern konnte den Titel auch spielen. An dem Marsch »klebt die Assoziation mit der nationalsozialistischen Propaganda und wirkt in den Köpfen der Zuhörer. Das wiederum eröffnet Missbrauchsmöglichkeiten durch rechte Kreise. Eine Entmystifizierung durch unbefangenen Gebrauch scheint mir unsicher, deshalb sehe ich dort, bei der Missbrauchsgefahr und der Wirkung in den Köpfen die Gründe, warum man meiner Ansicht nach den Badenweiler Marsch – mag er selbst vielleicht auch harmlos sein – nach wie vor nicht unbedenklich spielen kann«, urteilt Rainer Erlinger im Magazin der Süddeutschen Zeitung vom 11.09.2007.

In Plauen ziehen rund 500 Anhänger rechter Vereinigungen in Uniformen, mit Flaggen, Schildern, Fackeln und Trommeln durch die Stadt und grölen widerliche Parolen. Wer das Video bis zum Ende aushält, bekommt auch die Erklärung für die reißerische Überschrift »Flaggen, Parolen und alte Volkstänze: Videos zeigen das Grauen von Plauen«. Nach knapp einer Minute wandeln sich die Töne von Trommeln und Hupen in den wohlbekannten Klang der Sternpolka. Zu hören ist die Aufnahme der Volkstanzmusik Frommern von der CD »Danz mit beim Schwäbischen Albverein«. Die Verwendung der Aufnahme ist nicht mit den Urhebern abgesprochen, obwohl alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten sind und Vervielfältigung und Veröffentlichung nicht gestattet werden. Der Schwäbische Albverein und das Schwäbische Kulturarchiv sind mit der Verwendung ihrer Musik für Propaganda der rechtsextremistischen Kleinstpartei »Der III. Weg« keinesfalls einverstanden. Darüber hinaus sei dieser Hinweis auf die Geschichte der Sternpolka gestattet: Sie kam – grob gesagt – als Variante der Linzer Polka über den Umweg USA erst in den 1950er-Jahren nach Deutschland.

Wir denken natürlich, dass nicht alles, was in der NS-Zeit missbraucht, instrumentalisiert, mit falscher Absicht intoniert wurde, für immer tabu sein muss. Wir denken aber, dass es unsere Aufgabe ist, Finger in Wunden zu legen und Aufklärung anzubieten. Oder wie im letzten Beispiel auf Missbrauch und Rechtsbruch hinzuweisen.


Kommentare (2)

  1. Thomas Greiner:
    15 Okt 2019 um 13:10

    Sehr interessant!
    LG Thomas Greiner

  2. Gollwitzer Friederike:
    15 Okt 2019 um 22:10

    Ich finde es ganz toll, dass Ihr klare Kante zeigt. Allzuviel wurde von der Forschung und der Pflege unter den Teppich gekehrt und verschwiegen. In diesem Zusammenhang möchte auch ich auf das hervorragende Buch "Der mit den Bäumen sprach, Walther Hensel" hinweisen. Es geht darin nicht nur um diese widersprüchliche Person. Sehr differenziert und ausführlich wird auch die politische Seite der Volksmusik- Entwicklung dargestellt.


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