Musikalische Praxis während einer Pandemie - einige Beobachtungen

Musikalische Praxis während einer Pandemie - einige Beobachtungen

Für die meisten Menschen - Musiker_innen ebenso wie Publikum - ist es einleuchtend, dass Veranstaltungen ab einer gewissen Nähe zueinander während einer Pandemie nicht stattfinden dürfen. Theater-, Opern- und Konzerthäuser sind bereits seit Mitte März geschlossen. Das am 15. April erlassene Verbot von Großveranstaltungen bis zum 31. August 2020 betrifft feste Größen der Popularmusik (z. B. Rock am Ring und Rock am Park, Wacken Open Air) ebenso wie die der Volksmusik (z. B. Rudolstadt Festival, drumherum). Während dies für diejenigen, die Musik im Nebenerwerb und ausschließlich in ihrer Freizeit nachkommen, ein herber Verlust ist, bedeuten die Absagen für freischaffende Vollzeitmusiker_innen eine tatsächliche Bedrohung ihres Lebensunterhaltes. Während ich diesen Artikel schreibe, ist es noch nicht klar, ob die staatlichen Soforthilfe-Programme Betroffenen tatsächlich helfen. Eine Momentaufnahme bietet dieser Artikel. Für Bayern hat am 20.04.2020 die Bayerische Staatsregierung Direkthilfe für in der Künstlersozialkasse organisierte Freischaffende angekündigt, am 14.05.2020 wurde die Direkthilfe nach Aussagen des Ministerpräsidenten in der Presseversammlung des gleichen Tages über diesen Kreis hinaus erweitert und die zur Verfügung stehenden Geldmittel erhöht.

Beethoven und Hashtags
Über soziale Medien, Chatgruppen und Berichten in linearen Medien wurde Mitte März folgender Aufruf verteilt: Unter dem Motto »Musiker*innen für Deutschland« sollte am Sonntag, dem 22. März 2020 von Balkonen und aus Fenstern der Schlusschor »Ode an die Freude« aus Beethovens 9. Symphonie erklingen - mit bundesweitem Erfolg, selbst die Tagesthemen berichtete am Folgetag (ab 22‘15‘‘ bis 26’26). Das Spielen von Musik am Sonntagabend aus den eigenen vier Wänden hinaus in eine Öffentlichkeit außerhalb, hat mittlerweile eine Eigendynamik entwickelt. Eine Konstante scheint die »Ode an die Freude« zu sein, die häufig entweder ausschließlich gespielt wird oder als Einleitung für ein längeres Set dient . Selbst, wer sich aktiv für eine andere Musikauswahl entscheidet, tut dies im Bewusstsein, dass der Aufruf die Ode vorsah, beschrieben z. B. in diesem Blogbeitrag von Günter Dachs, denn die »Ode an die Freude« war ihm schlicht »langweilig. Ich spielte [...] stattdessen flotte Dixieland- und Swing-Lieder«.

Handys erfüllen in diesen Tagen eine wichtige Funktion: Dokumentation und Teilhabe. Denn nicht wenige Musiker_innen teilen ihr Mitwirken über soziale Medien, versehen mit Hashtags wie #musikausdemfenster, #musikverbindet, #gemeinsamgegencorona und dem immer passenden #stayathome. Soziale Medien ermöglichen sozialen Bestätigung - obwohl Andere nicht anwesend waren (sein konnten), kann durch die Reaktion auf den geteilten Beitrag in eine soziale Interaktion eingetreten werden. Die musikalische Handlung, die zuerst ausschließlich einen Wert in ihrer Ausführung an sich hatte, erlangt so trotz physischer Distanz erneut zwischenmenschliche Bedeutung. Die Aktion scheint auf die Deutschen Musikverbände zurückzugehen. Beim Niedersächsischen Musikverband e.V. finden sich auch vereinzelt weitere Musikvorschläge mit vorbereitetem Notenmaterial

Vorbild war in diesem Fall Italien. Dort wurde bereits seit Anfang März über den Hashtag #flashmobsonore zum gemeinsamen Musizieren auf Balkonen aufgerufen. Die Repertoiregestaltung ist dabei vielfältig und reicht von Popmusik über die Nationalhymne bis zum Partisanenlied »Bella Ciao«. Als Geste der Solidarität filmte ein Bamberger das gemeinsame Singen von »Bella Ciao« in seiner Nachbarschaft. Die Videoaufnahme wurde am 16. März 2020 online gestellt und fand weite Rezeption. Ein Zusammenhang mit dem späteren Aufruf zum gemeinsamen Musizieren in Deutschland am 22. März ist zumindest zu vermuten.

Freischaffende Musiker_innen und Auftrittbeschränkungen
Jede Krise offenbart auch Resilienz und Einfallsreichtum der Betroffenen. Einige Beispiele sollen dies veranschaulichen. In allen stand die Frage im Mittelpunkt, wie Musik und Publikum zusammenkommen können. Die niederländischen Musiker Wim te Groen und Wouter Kuyper spielen bereits seit April Live-Konzerte und geben gegen eine Gebühr den Link zum genutzen Online-Raum weiter. Angesetzer »Eintritt« sind fünf Euro pro Person (nicht pro Computer), wobei sich die Musiker auf die Ehrlichkeit ihres Publikums verlassen. Beworben wird der Livestream ausschließlich über Social-Media-Kanäle.
Seitdem finden sich immer mehr Beispiele von gestreamten Musikangeboten (kostengebunden ebenso wie gratis), die von »Feierabendmusi« über Kneipensingen bis zum »Tanz in den Mai« reichen.

Auch Musikgruppen mit größerer Bekanntschaft nutzen die Möglichkeit des Streamings. In der Ankündigung wird durchaus auch auf bereits etablierte Medienkanäle zurückgegriffen, so bewirbt die fränkische Gruppe Gankino Circus ihren geplanten Livestream Ende Mai auch in der gedruckten Presse, wird von einer Künstleragentur betreut und die vor der Pandemie geplante Tour war präsentiert vom Radiosender Bayern 2.

Einen anderen Ansatz verfolgt die Initiative »Kultur vor dem Fenster«. Im April war die Initiative noch auf Fürth begrenzt, Mitte Mai gibt es Ableger in Nürnberg, Erlangen und Landshut sowie in Bamberg, dort unter dem Namen »kontakthöfe«. Anstatt über ein digitales Medium Teilhabe an einer Veranstaltung zu ermöglichen, sollen hier Kulturschaffende und Publikum physisch zusammengebracht werden - unter Einhaltung der Abstandsgebote. Dafür kommen Künstler_innen zum Publikum und treten vor deren Fenstern und Balkonen auf. Diese Auftritte funktionieren nicht nach dem Prinzip der Straßenmusik (zufällige Auftritte mit anschließender Geldsammlung), sondern als Dienstleistung nach direktem Auftrag z.B. einer Hausgemeinschaft über die Homepage der Initiative.
Im Gegensatz zu einer digitalen Übertragung eines Musikereignisses, erfordert dieser Ansatz konkrete Absprachen mit lokalen Behörden. Hinter Konzept, Aufbau und Durchführung von »Kultur vor dem Fenster« - Entwicklung, Programmierung und Hosten der Homepage, Verschriftlichung des Konzeptes, Öffentlichkeitsarbeit in allen Medienformaten, Verhandlungen mit Behörden - steht dementsprechend Arbeitszeit der Initiator_innen, die derzeit kaum bis nicht entlohnt wird. Dies wird aufgewogen mit der potentiellen Nachhaltigkeit, die die Idee hinter »Kultur vor dem Fenster« mitbringt - das Erlebnis eines Fensterkonzertes könnte durchaus auch in einer postpandemischen Zeit ein Publikum ansprechen.1

Was ist verzichtbar?
Während einerseits Kinos, Theater, Konzert- und Kultureinrichtungen ihre Türen geschlossen halten und Künstler_innen auf den Betriebskosten sitzen bleiben, wendet sich ein Großteil der Menschen hierzulande gerade jetzt (vielleicht getrieben von der Quarantänelangeweile) Kulturproduktionen zu - Büchern, Aufnahmen von Konzerten, Livestreams auf sozialen Medien, Film-, Fernseh- und Theaterproduktionen. Kunst und der Prozess der Kunstproduktion - in diesem Artikel also Musik und aktives Musizieren - offenbaren besonders in dieser Zeit ihre Bedeutung. Gleichsam stellt sich die Frage nach dem buchstäblichen Gegenwert. Während viele Musikschaffende Teile ihrer Arbeit »spenden« - Menschen in unsicheren Zeiten unentgeltlich Musik bringen - so werden sie dies mittelfristig nicht ohne finanzielle Hilfe von außen leisten können. Während im Mai die Öffnung von Freilichtbühnen - wie beispielsweise in Dinkelsbühl - umgesetzt werden, werden in geschlossenen Räumen unter Einhaltung der Abstandsvorgaben zumindest Probenarbeiten wieder aufgenommen. Tatsächlich ist die Datenlage zu einem eventuellen höheren Infektionsrisiko während einer Musikprobe noch unsicher, die Musikhochschule Freiburg führte daher am 05.05.2020 Messungen mit den Bamberger Symphonikern durch. Die ersten Erkenntnisse sind vielversprechend, so scheint z.B. ein Abstand von zwei Metern auszureichen (im Gegensatz zu den häufig empfohlenen 3-5 Metern beim Musizieren). Näheres, insbesondere zu Luftverwirbelungen, Tröpfchenausstoß und genereller Riskikoeinschätzung sind dieser Pressemitteilung zu entnehmen. Die Studie arbeitet mit professionellen Musiker_innen, uns ist keine Studie bekannt, für die bei Laienmusiker_innen Messungen durchgeführt werden.

Was passiert mit der Laienmusik? Oder: Gemeinschaftsbildung trotz Kontaktbeschränkung
Als Gebrauchsmusik ist Volksmusik eng an Vereine und Gruppierungen mit ihren Veranstaltungen sowie an regionale Brauchausübung geknüpft - von denen vorerst viele nicht stattfinden können. Die Trauer darüber wird sowohl in privaten Gesprächen als auch über soziale Medien kommuniziert, in Letzteren z. B. indem Bilder aus der Vergangenheit geteilt werden.

 

Mittelfristig stellt sich nun die Frage, wie es weitergeht. Wie erhalten sich Musikkapellen und Tanzgruppen Gemeinschaft, wenn sie sich nicht am gleichen Ort aufhalten können?
Selbst in regulären Zeiten setzen viele Musiker_innen neben Auftritten und Konzerten auf ein zweites Standbein in der Musiklehre, sei es durch Privatunterricht oder als Workshopdozent_in. Aufgrund der Kontaktbeschränkung hatten sich bereits früh viele Lehrkräfte auf Online-Unterricht umgestellt und in Bayern ist seit dem 11.05.2020 Einzelunterricht unter Einhaltung der Abstandsvorgaben wieder genehmigt.
Konventionelle Plattformen wie Skype oder Zoom sind für Einzelunterricht geeignet, schwieriger wird das jedoch bei Überlegungen für Gruppenunterricht. Aufgrund von Datenreduzierung in der Übertragung ist eine Audiomischung häufig nicht möglich. Das macht gleichzeitiges gemeinsames Musizieren und ggf. Improvisieren, wie wir es sonst in Workshops gewöhnt sind, unmöglich.
Dennoch zeichnet sich mittelfristig ein Umgang mit dieser (technischen) Herausforderung ab. So bietet die Berliner Geigerin Vivien Zeller seit Anfang Mai wöchentliche Tanzmusikworkshops über Skype an. Thematische Schwerpunkte sind auf Wochen vorher angekündigt, ein kontinuierliches Mitmachen ist ebenso möglich wie die Einzelteilnahme. Ein gemeinsames Musizieren ist weiterhin nicht möglich, ein gleichzeitiges Spielen schon: die Teilnehmenden schalten ihr Mikro aus und folgen der Tonspur der Workshopleitung. Das fordert einerseits die Eigenständigkeit und die Eigenverantwortung der Teilnehmenden heraus - wer nicht mitkommt, muss dies auch aktiv kommunizieren. Andererseits senkt es die Hemmschwelle zum Mitmachen, schließlich hört niemand, falls jemand das eigene Spielvermögen als unzureichend empfindet und auch geographische Distanzen sind irrelevant.

Das Musikprojekt »Ethno« ,ein Programm von Jeunesse Musicales, lebt vom persönlichen Kontakt. Weltweit werden jedes Jahr in Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren Musikcamps durchgeführt, auf denen sich junge Musikschaffende treffen und sich über ihre Musiktraditionen austauschen. Herzstück sind die täglichen Workshops, in denen sich die Musiker_innen in einem peer-to-peer-Ansatz Musikstücke beibringen. Jedes Camp wird von so genannten Artistic Leaders begleitet, die in der Probenphase und im Arrangement der mitgebrachten Stücke helfen.

Als im Frühjahr Regierungen weltweit Maßnahmen gegen die Verbreitung von SARS-CoV-2 ergriffen, bedeutete dies für einige geplante Ethno-Events das Ende. Verantwortlichen im globalen Ethno-Netzwerk beschlossen daher zeitnah, eine Struktur zu schaffen, um das Projekt vorerst online weiterzuführen. Unter dem Namen »Hope Sessions« werden auf der Facebookseite »Ethno World« mehrfach pro Woche live gestreamte Workshop Sessions angeboten. Workshopleitungen generieren sich aus der Ethno Community, ihr Workshop wird in den Tagen vorher über Social Media Kanäle angekündigt. Auch hier ist nur eine einspurige Tonübetragung möglich, über eine Chatfunktion kann mit der Workshopleitung kommuniziert werden. Im Vorfeld bekommen Workshopleitungen alle notwendigen Informationen, um einen Livestream durchführen zu können; das Netzwerk steht bei Fragen und technischen Problemen zur Verfügung. »Hope Sessions« sind frei zugänglich, die Teilnehmendenzahl schwankt bislang zwischen 30-120, die Mehrzahl der Teilnehmenden kommt aus Indien, Bosnien-Herzegovina, Kroatien, Serbien und Deutschland. Nach Ende des Livestreams kann der Workshop über Youtube als Videoaufzeichnung abgerufen werden.2

Eine Gemeinschaft innerhalb des Ethnoprojektes ist bereits existent, ihre Bestätigung basierte bislang jedoch auf persönlichem Austausch und physischem Kontakt. Der organisatorische Aufwand ist nicht zu übersehen, wird jedoch von bereits etablierten Strukturen übernommen. Die Mitglieder der Gemeinschaft sind so frei, sich nach Möglichkeit und Bedarf in Aktivitäten einzubringen, ein kontinuierlicher (musikalischer und persönlicher) Austausch verbleibt erhalten. Die »Hope Sessions« taugen als Beispiel, wie ein digitaler Raum zur Gemeinschaftserhaltung geschaffen werden kann. In der Volksmusikszene in Bayern sind Strukturen vorhanden, die seit Jahrzehnten Präsenzseminare durchführen. Vielleicht sollte auch hier Digitalpräsenz angestrebt werden, der Schritt ist kein großer mehr.

Digitale Kompetenz als Zugangsschwelle
Es ist offensichtlich, welche Bedeutung den digitalen Netzwerken aktuell zukommt. Über soziale Medien wird zu Partizipation an Kunstformen aufgerufen, werden Ideen geteilt und die Möglichkeiten geschaffen, auf Handlungen anderer Menschen direkt und unkompliziert zu reagieren. Künstlerisch Aktive erstellen Videos, die in ihrer Machart von simplen Oneshot-Aufnahmen bis aus mehreren Einstellungen zusammengeschnittenen  Filmen reichen. Wer das nicht kann, legt jetzt entweder eine steile autodidaktisch gelenkte Lernkurve hin oder wird sich nicht produzierend beteiligen können.
Das Gleiche gilt für digitale Konferenz-Tools. Wer bereits vor den Ausgangsbeschränkungen Erfahrungen gesammelt hatte, hatte es in der Umstellung auf digitales Musizieren - und Proben - deutlich leichter, wusste um Probleme und ihre Lösungsansätze. Für wen dies alles Neuland ist, der weiß unter Umständen nicht mal von den Möglichkeiten, die unterschiedliche Konferenz-Tools bieten können. Zu guter Letzt gilt: Nur wer einen Livestream aufsetzen und betreuen kann, kann darüber Konzerte (gegen ein Entgelt) anbieten. Diese Fähigkeiten werden derzeit vor allem informell erschlossen, sicher häufig im Selbststudium über Youtube-Tutorials oder erklärt von der einen Bandkollegin, die sich zufällig auskennt. Mittelfristig stellt sich die Frage, wie digitale Kompetenz Interessierten leichter zugänglich gemacht werden kann. Erste Bildungsinstitutionen haben bereits Angebote entwickelt.

Ein vorläufiges Fazit
Eine geänderte Lebensrealität führt zwangsläufig zu geänderten Bedürfnissen. In gegebener Zeit wird darauf sicherlich reagiert werden - nur von welchen Seiten und auf welche Art ist noch nicht ersichtlich. In der Forschungsstelle beobachten wird diese Entwicklungen aufmerksam, unserem Auftrag folgend Volksmusik in Franken, ihre Formen und den Umgang mit ihr und durch sie zu dokumentieren. Während dies vergleichbar einfach ist, wenn es um die »Vorderseite« geht - Projektinitiativen, Konzepte, Musikvideos und -challenges, neugestrickte Coronalieder, ... - so haben wir aktuell nur wenig Wissen darüber, wie es Musiker_innen im Umgang mit der Pandemie wirklich geht. Wir verbleiben also zunächst in der Beobachtungsposition, aufmerksam und im Austausch mit unserer Umgebung. Ohne Zweifel werden gewonnenen Antworten neue Fragen aufwerfen.

 

Merle Greiser

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1 Interview mit Katja Lachmann, 16.04.2020.

2 Auskunft von S.M., 28.04.2020.

 

 

 

 

 

 

 


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