Verbotene Musik
Unter dem Thema „Verbotene Musik“ lud die Kommission zur Erforschung musikalischer Volkskulturen der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e.V. zur Arbeitstagung im Oktober 2018. Wir freuen uns die Ergebnisse nun in Form eines Tagungsbandes veröffentlichen zu können.
Die negative Konnotation des Themas „Verbotene Musik“ war von Beginn an durchaus als Herausforderung an die Mitglieder der Kommission verstanden worden. Es reizt Musikethnolog:innen und Volksmusikforscher:innen zur kritischen Auseinandersetzung und ist vielfach mit einem Fragezeichen zu versehen.
Ab welchem Zeitpunkt ist tatsächlich von einem Verbot zu sprechen? Die Frage nach „zu verbietender Musik“ forderte gleichzeitig die Wissenschaftler:innen dazu auf, sich die Strukturen der Musikproduktion und der medialen Verbreitung von Musik klarzumachen und eigene Standpunkte zu entwickeln. Welchen Musikkulturen widmen wir in unseren Arbeiten unsere Aufmerksamkeit, welche missachten wir absichtlich und aus welchen Gründen? Fordert nicht unsere weitgehende Verortung in einem westlichen Bildungskanon von uns, die Werte der von uns als universell proklamierten Menschen- und Bürgerrechte auch im Bereich der Musikausübung zu vertreten? Wie soll unsere Gesellschaft demnach mit bestimmten Musiken umgehen, die diesen Werten offensichtlich widersprechen? Genügt eine Thematisierung der problematischen Werke oder besitzen nicht Indexe mit Verboten des Besitzes und der Verbreitung oder Hinweise auf explizite Inhalte beim Kauf und der Aufführung doch einen Wert für die Gesellschaft als Ganzes?
Eindeutige Antworten waren nicht so leicht zu geben. Auf der einen Seite verwiesen die meisten auf ihr musikethnologisches oder volksmusikalisches Selbstverständnis, zu den diversen Erscheinungsformen von Musikkulturen eine kritisch forschende Haltung einzunehmen und sich nicht an Verbots- und Zensurdebatten zu beteiligen. Ziel sei es in erster Linie, die Historie und Gegenwart daraufhin zu untersuchen, wer welche Musikpraxis verbietet, zu welchen Folgen dies bei den Musizierenden und ihren Netzwerken führt und wie sich Verbote bei den Hörenden auswirken. Darüber hinaus sah eine Reihe von Wissenschaftler:innen es als Aufgabe an, an Universitäten oder in der schulischen Bildung für Aufklärung über „verletzende Musiken“ zu sorgen. Gemeint waren damit Werke, die durch Begriffe, Texte oder begleitende visuelle Ebenen die Menschen- und Grundrechte verletzen, Rassismus und andere Formen von Diskriminierung verbreiten oder zu Gewalt aufrufen. Diese Musiken sollten nicht verboten werden, wohl aber von den Fachkolleg:innen kritisch behandelt und Schüler:innen und Studierende für die Aussagen und Folgen sensibilisiert werden. Schließlich war eine dritte Facette in der Diskussion zu erkennen, die im Sinne einer angewandten Musikethnologie konstatierte, dass es viele Regionen auf der Welt gibt, in denen Musikpraktiken verboten und unterdrückt wurden und werden. Auch in demokratischen Gesellschaften können dominante Strömungen einer Musikkultur die Praktiken von Minderheiten ausgrenzen und unterdrücken. Für Musikethnologie und Volksmusikforschung gehe es darum, diese Prozesse des Verbietens, der Diskriminierung und Unterdrückung offenzulegen und die entsprechenden Minderheiten in ihren Bemühungen um Anerkennung zu unterstützen. Diese Aspekte zeigen auf, dass vor allem die Texte und sozialen Kontexte der Musikpraktiken im Mittelpunkt stehen, der Klang der jeweiligen Musiken jedoch nur in der persönlichen Wahrnehmung eine Rolle spielt.
Der Band „Verbotene Musik“ dokumentiert den Großteil von Beiträgen, die während der Tagung in Hildesheim zu hören waren. Er beinhaltet darüber hinaus einige weitere Beiträge, die infolge von Diskussionen zu „Verbotener Musik“ in unseren wissenschaftlichen Netzwerken entstanden. Bestimmte Aspekte des Themas, wie etwa das Verbot von Musik bei Ruhestörungen oder aus vermeintlich ästhetischen Gründen in der Inklusionspädagogik, kamen während der Tagung mehrfach zur Sprache, waren aber zu dem Zeitpunkt nicht mit Vorträgen vertreten. Wir bedanken uns bei den Autor:innen für die nachträgliche Beteiligung an diesem Forschungsfeld.
Das Thema „Verbotene Musik“ ist sowohl historisch als auch geographisch und kulturell betrachtet uferlos. Wir möchten mit dieser Sammlung von Aufsätzen vor allem die Arbeiten unterschiedlicher Wissenschaftler:innen dokumentieren. Sie entstammen verschiedenen Gesellschaftsformen und Kulturen, befassen sich mit Musik zu unterschiedlichen Zeiten. Für sie mag Musik jeweils etwas anderes bedeuten – sie wissen aber sehr genau, wie ein „Musikverbot“ aus ihrer Perspektive heraus zu verstehen ist. Die Sammlung soll den Blick auf Phänomene richten, die vielleicht nicht im Fokus der Allgemeinheit liegen, und soll damit gegen die Diskriminierung und Ausgrenzung von Musiken und ihren Protagonisten angehen; zugleich soll und kann sie nur ein Anstoß für weitere Forschungen sein.
Die Beiträge weisen unterschiedliche Schwerpunkte auf und lassen sich folgenden Themenbereichen zuordnen: Musikverbote im Spannungsfeld von Politik, Musikverbote als Machtinstrument in Religionen, Umgang mit verbotenen Musiken im Bildungskontext und gesellschaftliche Diskussionen über zu verbietende Musik. Uns ist bewusst, dass sich die Bereiche zum Teil überlagern. Die Schwerpunkte spiegeln vielmehr die verschiedenen Zugänge zur Thematik und die daraus folgenden Interpretationen.
Im Bereich des Politischen wird ein Bogen gespannt von Verboten und Zensur durch Machthabende über den Widerstand gegen solche Maßnahmen sowie deren gesellschaftliche Auswirkungen auf die Musikmachenden bis hin zu der Frage, wie (politische) Institutionen damit umgehen sollen. Gisela Probst-Effah und Astrid Reimers (Köln) stellen in „Das Lied im NS-Widerstand – ein Forschungsprojekt“ Verlauf und Ergebnisse des in den 1960er-Jahren initiierten Projektes über das Singen in bündischen und christlichen Jugendgruppen während des Nationalsozialismus und den daraus hervorgegangenen Sammlungsbestand vor. Günther Noll (Köln) untersucht in „Ingo Barz – ein Liedermacher in der DDR im Visier des Staatssicherheitsdienstes (STASI)“, wie versucht wurde, staatliche Musik- und Auftrittsverbote zu umgehen. Ernst Schusser (Bruckmühl) thematisiert in „Vom ‚Jennerwein‘ bis zur 3. Startbahn“ den medialen Umgang mit Verbreitungsverboten politisch unerwünschter Lieder in Oberbayern seit dem Zweiten Weltkrieg. Maximilian Kreter (Dresden) beschreibt in „Der Reiz des Verbotenen. Die sprachlich-ideologische Entwicklung der Band Stahlgewitter im Spiegel der deutschen Rechtsrockszene von 1995 bis 2017“ Geschichte und Produktionsprozesse der Rechtsrockszene in Deutschland. Nikola Nölle (Freiburg) hinterfragt politische Ausrichtung und Praxis der Toleranz in der Gothic-Szene in „Aushandlungen des Politischen. Die Gothic-Szene im Kontext ihrer Festivals“.
Musikzensur und Verbote als Machtinstrument in Religionen werden historisch im Kontext der christlichen Mission untersucht. Gegenwartsbezogene Themen erfolgen im Zusammenhang mit der Islamischen Revolution im Iran und den Folgen der Taliban-Herrschaft in Afghanistan. Selbst wenn religiöse Institutionen in vielen Fällen auch weltliche Machtbereiche aufbauen, in denen sie ihre Vorstellungen von Musik propagieren, unterscheiden sie sich von politischen Regimes dadurch, dass als Begründung für ihr Handeln ein überirdischer Machtanspruch angeführt wird. Es sollen ein gewisses Menschenbild und ein zwischenmenschlicher Umgang bewusst erzeugt werden, die unmittelbar den Umgang mit Musiken im Positiven wie im Negativen mitbestimmen. Lisa Herrmann-Fertig (Würzburg) beschreibt in „‚Musik’ in der Jesuitenmission der alten Sozietät in Südindien“ den Umgang der katholischen Mission mit Musikpraktiken beim Kulturaustausch. Nepomuk Riva (Hannover) setzt sich in „Hidden, forbidden or transformed? Why did the Christianising of the ancestor feast ndie of the Bakossi in Cameroon fail?“ mit den komplexen Formen von Tabus, Verboten und missionarischen Transformationen vorkolonialer religiöser Rituale auseinander. Elena Schischkina (Astrachan, Russland) stellt in „Verbot der Musik, der Religion, der Rede ...“ die Folgen der Musikverbote für Wolgadeutsche im 20. Jahrhundert in Russland dar. Pascal Schiemann (Halle/Saale) untersucht in „Die Autokratie als Katechon. Entideologisierung und Ästhetisierung im indonesischen Black Metal“ die Auswirkungen eines politischen und religiösen Systemwechsels auf Musikverbote. Keivan Aghamohseni (Gilan, Iran) widmet sich in „Irans verbotene Musik im Spannungsfeld von Kommunismus und Imperialismus“ unterschiedlichen Formen der Musikzensur im 20. Jahrhundert. Mina und Mitra J. Harandi (Teheran, Iran) beschreiben in „Forbidden Music in Iran. The Study of Underground Music and Street Music in Tehran“, wie Musiker:innen in einer urbanen Zone Freiräume zum Musizieren nutzen. Karin Bindu (Wien, Österreich) widmet sich in „Das Musikverbot in Afghanistan während der Herrschaft der Taliban und dessen Auswirkungen auf rezente musikalische Aktivitäten“ der Situation afghanischer Musiker:innen in ihrem Herkunftsland sowie in Österreich. Eyram Fiagbedzi (Cape Coast, Ghana) und Eric Sunu Doe (Durban, Südafrika) untersuchen in „Socio-political history and cultural knowledge of a people. A reflection on Ghanaian highlife music” Popsongs, in deren Texten politisch Stellung zu aktuellen Stimmungen bezogen wurde, und die heute als Teil des kulturellen Gedächtnisses einen Einblick in zeithistorische Gesellschaftsdebatten bieten.
Im Bereich der Bildung spielt das Thema „Verbotene Musik“ verschiedene Rollen. Zum einen geht es um die Diskussion, wie mit verbotener, jugend- oder staatsgefährdender Musik im Unterricht umzugehen sei und wie die Musikpädagogik auf die Herausforderungen einer inklusiven und diversen Gesellschaft eingehen könne. Auf der anderen Seite dient die Erforschung von Bildungsprozessen dazu, darüber aufzuklären, wie bestimmte Musiken ausgegrenzt, verdrängt oder verändert wurden, um einen vermeintlich besseren Bildungskanon zu erstellen. Christine Dettmann (München) reflektiert in „Vermintes Gebiet und sichere Räume. Musikethnologisches Unterrichten” über Möglichkeiten des Unterrichtens von verbotenen und diskriminierenden Musiken im Hochschulbereich. Robert Wagner (Fürth) beschreibt in „Das Leitbild der Inklusion. Chance für Mensch und Musik“ die Herausforderungen eines inklusiven Musikunterrichts, der niemandem verschlossen sein oder Musikstile verbieten will. Walter Meixner (Innsbruck, Österreich) stellt in „‚Verbotene Tiroler Lieder‘. Franz Friedrich Kohls Sammlung Echte Tiroler-Lieder und die ‚Liste nicht echter Volkslieder‘“ einen Prozess vor, in dem die Kanonisierung von vermeintlich „echten“ Volksliedern zu einer Ächtung eines bestimmten Repertoires geführt hat. Armin Griebel (Uffenheim) rekonstruiert die Anonymisierung der Autorenschaft einer Komponistin in „‚Es führt über den Main eine Brücke von Stein‘. Ein Lied von Felicitas Kukuck und seine Rezeption als ‚Volkslied’ in Bayern“.
Die Frage nach unerwünschter, zu verbietender oder verboten gehörender Musik und verschiedenen Musikpraktiken ist allerdings nicht nur eine institutionelle, sondern auch eine allgemein gesellschaftliche Fragestellung. Wie reagieren Gemeinschaften auf Musiken mit explizit diskriminierenden Texten, auf extreme Lautstärke oder auf übermäßigen Musikkonsum? In diesem Bereich geht es um die Frage, ob Verbote aufgrund eines bestimmten Wertes oder der Qualität einer Musik ausgesprochen werden sollten. Thomas Lipski (Cloppenburg) geht in „Verbotene Musik – Missbrauch von Musik – Musik eine gefährliche Droge?” musiksystematischen Fragestellungen zur Debatte über die Gefährlichkeit von Musiken nach. Nepomuk Riva (Hannover) analysiert in „Respektvolle Arbeiter gegen rücksichtslose Musik-Terroristen. Konfliktbearbeitungen bei Ruhestörungen durch Musik am Beispiel der Zettelsammlung von Notes of Berlin“ kreative nachbarschaftliche Kommunikationsprozesse bei zu lautem Musikkonsum.
Musikethnologische und volksmusikalische Forschung verstehen sich als ethnographisch arbeitende Wissenschaften, die anhand konkreter Fallbeispiele Untersuchungen durchführen und dadurch gerade bei übergreifenden Themen niemals ein Ende erreichen können. Der Themenkomplex „Verbotene Musik“ bietet vielfältige Ansatzpunkte für musikethnologische und volksmusikalische Forschungsfragen, kann jedoch auch eine Verwicklung in herausfordernde gesellschaftliche Konflikte nach sich ziehen. Verbote von Musik können zugleich eine treibende Kraft sein, deren Bekämpfung ein ganzes Leben lang anhält. Die Verfasser:innen berichten in diesem Buch von ihren unterschiedlichen Beschäftigungen mit diesem Thema und möchten andere ermutigen, sich damit auseinanderzusetzen.
Der Tagungsband „Verbotene Musik“ ist über unseren Shop erhältlich.
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