Morgen, Kinder, wirds nichts geben
In vielen Familien mag es für Heilig Abend einen „Nichtangriffspakt“ geben – was das gegenseitige Beschenken mit materiellen Dingen angeht, zumindest unter den Erwachsenen. Aber in quasi allen Familien, die das Weihnachtsfest feiern, dürfen sich die Kinder auf das ein oder andere Geschenk freuen, das sie ordnungsgemäß beim Weihnachtsmann bzw. Christkind angemeldet haben.
Die Vorfreude auf den reichlichen Geschenke-Segen in bürgerlichen Wohnzimmern wurde 1809 von Philipp von Bartsch (1770–1833) in Gedichtform gegossen, und zwar zur Melodie des Hamburger Lieds „Morgen, morgen wirds was geben“. Das Ergebnis ist eines der bekanntesten deutschen Weihnachtslieder:
1. Morgen, Kinder, wirds was geben,
morgen werden wir uns freun!
Welch ein Jubel, welch ein Leben
wird in unserm Hause sein!
Einmal werden wir noch wach,
heißa, dann ist Weihnachtstag!
2. Wie wird dann die Stube glänzen
von der großen Lichterzahl!
Schöner als bei frohen Tänzen
ein geputzter Kronensaal.
Wisst ihr noch, wie vorges Jahr
es am Heilgen Abend war?
3. Wisst ihr noch mein Räderpferdchen,
Malchens nette Schäferin,
Jettchens Küche mit dem Herdchen
und dem blankgeputzten Zinn?
Heinrichs bunten Harlekin
mit der gelben Violin?
4. Welch ein schöner Tag ist morgen!
Viele Freude hoffen wir,
unsre lieben Eltern sorgen
lange, lange schon dafür.
O gewiss, wer sie nicht ehrt,
ist der ganzen Lust nicht wert.
Geschenke sind schon was Tolles, je mehr, desto besser. Aber immerhin wird am Ende des Lieds noch die Auflage gemacht, die Eltern zu ehren, und die hier thematisierte Freude an Spielzeug ist nur ein Aspekt des Weihnachtsfestes. Weihnachten ist natürlich auch eine Zeit, in der man sich füreinander Zeit nimmt, leckere Nahrungsmittel zubereitet und verputzt, sich schönen Dingen widmet, den Weltfrieden gut findet und – sofern man gläubig ist – zum Gottesdienst geht.
Aber die Zelebrierung dieser kleinen heilen Welt darf natürlich kritisiert werden: Wo ist denn der Friede auf Erden? Helfen der Weihnachtsbaum und der süße Glockenklang, selbigen herbeizuführen und die Armut zu bekämpfen? Wie kann man sich ruhigen Gewissen exzessivem Konsum hingeben, wenn anderswo Kinder verhungern?
Das fragte sich auch Erich Kästner, als er das Weihnachtslied „Morgen, Kinder, wirds was geben“ im Stil der Neuen Sachlichkeit parodierte: Sein Liedtext mit dem Titel „Weihnachtslied, chemisch gereinigt“ wurde erstmals 1927 veröffentlicht und ist eine nüchtern-kritische Abrechnung mit dem mehr oder weniger scheinheiligen bürgerlichen Familien-Weihnachtsfest:
1. Morgen, Kinder, wirds nichts geben!
Nur wer hat, kriegt noch geschenkt.
Mutter schenkte euch das Leben.
Das genügt, wenn mans bedenkt.
Einmal kommt auch eure Zeit.
Morgen ists noch nicht soweit.
2. Doch ihr dürft nicht traurig werden.
Reiche haben Armut gern.
Gänsebraten macht Beschwerden.
Puppen sind nicht mehr modern.
Morgen kommt der Weihnachtsmann.
Allerdings nur nebenan.
3. Lauft ein bisschen durch die Straßen!
Dort gibts Weihnachtsfest genug.
Christentum, vom Turm geblasen,
macht die kleinsten Kinder klug.
Kopf gut schütteln vor Gebrauch!
Ohne Christbaum geht es auch.
4. Tannengrün mit Osrambirnen –
lernt drauf pfeifen! Werdet stolz!
Reißt die Bretter von den Stirnen,
denn im Ofen fehlts an Holz!
Stille Nacht und heil'ge Nacht –
weint, wenns geht, nicht! Sondern lacht!
5. Morgen, Kinder, wirds nichts geben!
Wer nichts kriegt, der kriegt Geduld!
Morgen, Kinder, lernt fürs Leben!
Gott ist nicht allein dran schuld.
Gottes Güte reicht so weit ...
Ach, du liebe Weihnachtszeit!
Die Karlsruher Band Saltatio Mortis kommt aus der Mittelalter-Szene und verwendet den Original-Text von Erich Kästner. Sie versieht ihn aber mit einer anderen Melodie, unterlegt diese mit einem Bordun und kombiniert Gitarre, Dudelsack und Schlagzeug: https://www.youtube.com/watch?v=C7hN0d5g0mI
Keule, ein Pop-/Rock-Comedy-Duo aus Berlin, nehmen wiederum die bekannte Melodie von Hering, aber thematisieren in ihrer Text-Version insbesondere den Stress und den zwanghaften, gefährdeten Familienfrieden: https://www.youtube.com/watch?v=7zfipZSKG7k
Zu guter Letzt möchte ich Ihnen noch die Version der Berliner Stadtreinigung von 2014 ans Herz legen, die aber nicht an Aktualität verloren hat: ein Aufruf zu mehr Umweltbewusstsein beim Konsumverhalten (und passenderweise auch Mülltrennung), interpretiert vom Canzonetta Kinderchor Berlin: https://www.youtube.com/watch?v=uC7_9A6R8pc
Projektseite: https://trenntmagazin.de/morgen-kinder-wird-es-nichts-mehr-geben/
Christoph Meinel
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