Carol of the Bells

Carol of the Bells

Ich muss sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, als ich zum ersten Mal „Kevin – Allein zu Haus“ gesehen hatte. Es gibt vieles, was an diesem Film zu kritisieren wäre – und bis heute ist es für mich unklar, warum in der Fortsetzung ein Gastauftritt vom gegenwärtigen Präsidenten der USA vorkommt – doch fühle ich  bis heute eine gewissen Weihnachtsnostalgie, wenn mir der Film irgendwo begegne. Dass das aber in der Chorprobe passieren würde, hatte ich dann doch nicht erwartet.

In einer der Schlüsselszenen baut Kevin Falle um Falle, um die Einbrecher zu fangen. Der Soundtrack dazu  („Setting the Trap“) stammt von John Williams, der – und das wurde mir erst in besagter Chorprobe klar – auf das melodische Material eines in den USA weit verbreiteten und bekannten Weihnachtsliedes zurückgriff. Es handelt sich um „Carol of the Bells“, ein Lied, das eine faszinierende Rezeptionsgeschichte erzählen kann.

1916 schrieb der ukrainische Komponist Mykola Leontovich auf der Basis einer kurzen Melodie aus einer Volksliedsammlung ein neues Werk für einen vierstimmigen gemischten Chor. Als Textgrundlage nutzte er Verse eines Neujahrsliedes. Der Titel war „Shchedryk“ – von dem Wort „shchedryj“ = übbig, reichlich – und der Text erzählt von einer Schwalbe, die ein reichhaltiges Jahr verkündet.

Mit diesem Lied im Gepäck ging der Ukrainische Nationalchor auf Tournee, die sie  u. a. im Oktober 1921 nach New York führte. Einige Jahre später – mitten in der Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre – griff Peter J. Wilhousky, zu der Zeit der Arrangeur des NBC Radio Symphony Orchestra und auf der Suche nach neuem Material für das Weihnachtsprogramm, „Shchedryk“ (??????) auf und schrieb einen neuen Text, der mit den Zeilen „Hark! How the bells, sweet silver bells, […] people sing songs of good cheer, Christmas is here“ und „Merry, merry, merry, merry Christmas!“ sehr eindeutig und ausschließlich für die Advents- und Weihnachtszeit bestimmt ist.

Das war der Beginn einer weiten Rezeption von „Carol of Bells“, wie der neue Titel nun lautete. Aus persönlicher Chorpraxis kann ich das nachvollziehen, denn das Lied ist eingängig, weist einige enorm schöne melodischen Phrasen auf, ist durch sein hohes Tempo ein guter Gegensatz zu vielen getragenen Weihnachtsliedern und bietet so Abwechslung und bringt durch das konstante Glockenläuten (“ding-dong“) auf punktierten Halben ein 6/8-Gefühl in einen gradlinigen 3/4-Takt. (Und wer kann schon einem gut gemachten Ostinato widerstehen?)

Der Text unterliegt im Übrigen noch dem Urheberschutz, was vielleicht auch ein Grund sein mag, warum Williams’ Arrangement keinen Gesang beinhaltet. Es ist im jeden Fall der Grund, warum es heute kein Liedblatt gibt. Stattdessen möchte ich einige der (unendlichen) Möglichkeiten des musikalischen Arrangierens vorstellen:

Die „klassische“ Version, arrangiert von Leontovych auf den Text von Wilhousky, gesungen vom St. George’s Chapel Choir (2018): https://www.youtube.com/watch?v=FydDhuAYcOI

gemischter Chor mit einem Satz von Roberto di Marino, gesungen vom Deutsch-Französischer Chor Dresden (2013): https://www.youtube.com/watch?v=kDgiYXA1iwQ

Ein Pop-A Capella-Arrangement, gesungen von der Gruppe Pentatonix: https://www.youtube.com/watch?v=WSUFzC6_fp8&list=PLC_4eK2FTyn6_OVK1m0Cde8cmvJelfXJx&index=11&t=0s

Pop-Klassik-Crossover für Cello: https://www.youtube.com/watch?v=e9GtPX6c_kg

Zum Weiterlesen:
https://www.theatlantic.com/entertainment/archive/2015/12/the-ironic-intensity-of-carol-of-the-bells/420519/
https://www.eurekalert.org/pub_releases/2004-12/ru-ot121304.php

Merle Greiser


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