Deilig er jorden

Deilig er jorden

Liedblatt zum Download

Da hatte ich nicht schlecht geschaut, als mir meine Partiturspiel-Dozentin dieses Lied auf das Klavier legte. Es handelte sich um eine Kopie aus einem deutschen Gesangbuch mit dem Textanfang „Schönster Herr Jesu“, welches mir völlig unbekannt war. Anders war das mit der Melodie, die kannte ich gut – allerdings als norwegisches Weihnachtslied mit dem komplett anderen Liedanfang „deilig er jorden“ [herrlich ist die Erde]. Vielleicht war das der Moment, in dem meine Faszination mit Liedgeschichte anfing.

Das Kirchenlied „Schönster Herr Jesu/Jesu über alles“ wird heute mit zwei Melodien gesungen. Die ältere stammt aus dem Münsterschen Gesangbuch von 1677 und ist die in der katholischen Kirche verbreitete. In der evangelischen Kirche steht zusätzlich eine zweite Melodie im Gesangbuch. Diese zweite Melodie (mit ähnlichem Text zum heutigen „Schönster Herr Jesu“) ist vor 1842 in K?odzko (Glatz, Schlesien) aufgeschrieben worden, ihre bisher älteste Publikation ist in Hoffmann von Fallerslebens Sammlung „Schlesische Volkslieder mit Melodie“ (1842/1852) zu finden. Auch Ludwig Erk und Franz Magnus Böhme führen sie auf im „Deutschen Liederhort“ (1893, Nr. 2010). Zwischen den 1840ern und 1890er Jahren hatte sich bereits eine größere Rezeption des Liedes etabliert, auf welche Erk mit folgendem Liedkommentar reagierte:

„Moderne Schulliederhefte nach 1842, welche doch alle das Lied der Sammlung Hoffmann’s verdanken, bezeichnen es ohne jeglichen Grund als einen ‚Gesang der Kreuzbrüder‘, welche Angabe ich entschieden zurückweisen muß, da bis jetzt weder Musik- noch Literaturhistoriker so etwas gefunden haben und nicht finden können, denn die Faktur der Melodie weist auf spätere Zeit hin. Hat auch Franz Liszt in seinem Oratorium ‚Die heilige Elisabeth‘ die schlesische Mel. zu einem feierlichen ‚Marsch der Kreuzritter‘ verwendet, so ist das schön, aber chronistischer Irrtum.“ (ebd.)

Am 8. September 1850 wurde eine dänische Version in der Kirchenzeitschrift „Dansk Kirketidende“ veröffentlicht, der abgewandelte Text stammt von Bernhard Severin Ingemann (1789–1862). Ingemann gab dem Lied den Titel „Pilgrimssang“ [Pilgerlied], seine Textfassung entstand unter dem Eindruck der Schlacht bei Idstedt im Kontext des Ersten Schleswig-Holsteinischen Krieges (1848–1851, in der deutschen Geschichtsschreibung auch „Schleswig-Holsteinische Erhebung“ genannt, die dänische Bezeichnung lautet Treårskrigen [Der Drei-Jahres-Krieg]). 1924 wurde das Lied mit einer direkten Übertragung ins Norwegische in  „Landstads reviderte salmebok“ [Landstads überarbeitete Psalmenbuch] aufgenommen, welches wiederum bis 1985 das offizielle Liederbuch der Norwegischen Kirche war.

Deilig er jorden,
prektig er Guds himmel,
Skjønn er sjelenes pilgrimsgang!
Gjennom de fagre
riker på jorden
Går vi til paradis med sang.

[Herrlich ist die Erde,
prächtig ist Gottes Himmel,
wunderschön ist der Seelens Pilgerweg!
Durch die hübschen
Reiche auf der Erde
ziehen wir mit Gesang ins Paradis.]

Tider skal komme,
tider skal henrulle,
slekt skal følge slekters gang,
aldri forstummer
tonen fra himlen
i sjelens glade pilgrimssang.

[Zeiten werden kommen,
Zeiten werden hinwegziehen,
Generation wird der vorherigen nachgehen,
nie wird der Ton aus dem Himmel verstummen
im Pilgerlied der frohen Seele.]

Englene sang den
først for markens hyrder;
skjønt fra sjel til sjel det lød:
Fred over jorden,
menneske, fryd deg!
Oss er en evig frelser født!

[Die Engel haben es gesungen
zuerst für die Hirten auf dem Feld,
schön erklang es von Seele zu Seele:
Frieden über die Erde,
Mensch, erfreue dich!
Uns ist der ewige Erlöser geboren!]

Technisch gesehen ist „Deilig er jorden“ gar kein Weihnachtslied und so kann und wird es in Norwegen tatsächlich auch zu anderen Anlässen gesungen. Doch das Lied hat eben auch eine enge kulturpraktische Verknüpfung zum Weihnachtsfest und freut sich großer Beliebtheit im Advent. Das Weihnachtskonzert, in dem zum Abschluss nicht „Deilig er jorden“ gesungen und gespielt wird, ist in meiner Erfahrung eine seltene Ausnahme. Und so brauche ich nur einige wenige Noten hören und es ist fast so, als würde ich Milchreis und Gløgg bereits riechen. Tanzt jemand mit mir um den Weihnachtsbaum?

Merle Greiser


Kommentare (3)

  1. Claus Schröder:
    22 Jan 2025 um 07:01

    Vielen Dank für diesen spannenden Einblick in die Geschichte von „Schönster Herr Jesu“ und „Deilig er jorden“!

    Besonders beeindruckend fand ich die Verbindung zwischen den Melodien, den Textfassungen und dem historischen Kontext. Einige Details könnten noch präzisiert werden, wie zum Beispiel der Hinweis, dass die früheste bekannte (statt bisher älteste) Publikation der schlesischen Melodie bei Hoffmann von Fallersleben zu finden ist, oder eine genauere Erläuterung der Kreuzritter-Verbindung bei Franz Liszt.

    Zudem würde „nach meiner Erfahrung“ stilistisch natürlicher klingen als das denglische „in meiner Erfahrung“, oder?

    Trotzdem ein faszinierender Beitrag, der zeigt, wie Musik kulturelle Brücken schlägt – vielen Dank dafür!

  2. Merle Greiser:
    23 Jan 2025 um 08:01

    Vielen Dank für die Präzisierung, das ist so natürlich eleganter. Nur das arme Denglisch darf hier in Schutz genommen werden, "in meiner Erfahrung" ist wohl eher aus der norwegischen Sprache in mein Deutsch gewandert.

  3. Claus Schröder:
    23 Jan 2025 um 10:01

    Vielen Dank, liebe Frau Greiser, für Ihre freundliche Antwort und Ihre Nachsicht ob meines Strebens nach Präzision.

    Ihre Erklärung über den Einfluss des Norwegischen auf Ihren deutschen Sprachgebrauch ist aufschlussreich. Mehrsprachigkeit prägt uns auf eine Weise, die oft erst im Detail sichtbar wird. Da meine Frau norwegisch-italienischer Abstammung ist, kann ich ein Lied davon singen.

    Bis zu diesem Austausch hielt ich die Formulierungen „Min erfaring er at“ oder „Etter min erfaring“ im Norwegischen für gängiger als „i min erfaring“. Ihre Antwort zeigt jedoch, wie flexibel und lebendig Sprache ist und wie sie es uns erlaubt, unsere Gedanken auf individuelle Weise zu formulieren.

    Ihr Artikel hat mich auch auf einen anderen Punkt aufmerksam gemacht: Ein Trauerfall führte dazu, dass mir die Praxis, „Deilig er jorden“ nicht nur zu Weihnachten, sondern auch bei Beerdigungen zu singen, erstmals bewusst wurde. Das hat mich anfangs überrascht, doch Ihr Beitrag hat mir geholfen, die Hintergründe zu verstehen.

    Nochmals herzlichen Dank für Ihren sehr gelungenen Artikel. Er hat mir nicht nur die Geschichte des Liedes näher gebracht, sondern auch gezeigt, wie tief Musik und Sprache in unserer Erfahrung von Leben und Tod verwurzelt sind.


Kommentar schreiben:





Erlaubte Tags: <b><i><br>Kommentar hinzufügen: