Kommet ihr Hirten
Meine Mutter besaß ein Piano-Akkordeon mit magisch anziehenden weißen und schwarzen Tasten, das ich als Kind nicht spielen durfte, wohl auch, weil es für mich viel zu groß war. Musikalisch war ich aber, und deshalb war ich auch seit dem Grundschulalter im Ilmenauer Fanfarenzug, später im Spielmannszug Grenzmark Herzogenaurach als Trommler bzw. Perkussionist aktiv. Nachdem das Akkordeon kurz nach der Wende einem Hochwasser zum Opfer fiel und ich auch als Teenager viel Spaß am „Klimpern“ hatte, wann immer ich auf ein Klavier stieß, ging an meinem 16. Geburtstag ein Traum in Erfüllung: Leihweise bekam ich eine elektronische Heimorgel mit ein paar Orgelschulen. Zwar hatte diese nur fünf Oktaven, und die vier Klangfarben sind keinen Vergleich mit heutigen Keyboards wert. Aber ich war glücklich und machte mich begeistert daran, meine Klimper-Fähigkeiten autodidaktisch zu erweitern. Abgesehen vom Fingersatz, der bis heute „Marke Eigenbau“ ist, gelang mir das auch ganz gut, aber natürlich lag und liegt ein professionelles Niveau in weiter Ferne.
An das erste Stück, das ich mit zweistimmiger Melodie (nebst Akkord-Begleitung) spielen konnte, erinnere ich mich noch gut: „Kommet, ihr Hirten“, dankenswerter Weise mit nur einem Vorzeichen – in F-Dur. Leicht zu spielen, denn die Harmonisierung in meiner Orgelschule enthielt keine (wunderbar passenden) Moll-Parallelen und ging nicht über 4-5-1 (Subdominante, Dominante, Tonika) hinaus. Heilig Abend 1993 durfte ich dann meine Familie mit einem Vorspiel beglücken. Als Anfänger tendiert man ja dazu, zu schnell anzufangen (ein Metronom hatten wir noch nicht), und bei schwierigen Stellen ins Stocken zu geraten. Ob meine Leistung damals für die Zuhörerschaft zumutbar war, kann ich heute nicht mehr sagen.
Übertreiben à la 160 bpm sollte es man mit dem Tempo bei diesem Lied ohnehin nicht, denn sonst wirkt es zu hektisch, finde ich. Zwar mutet der Rhythmus beschwingt-tänzerisch an, mit konsequent ruhenden Vierteln auf der 1 und lockeren Achteln auf 2 und 3, und auch die dazu passende Melodie bewegt sich spielerisch um die Töne der Dreiklänge herum. Aber ein gewisses Maß an wiederum Gemächlichkeit fordernder Feierlichkeit ist „Kommet, ihr Hirten“ nicht abzusprechen, denn es geht ja um das kürzlich geborene Christuskind, das den Menschen den Frieden auf Erden bringen soll.
Der deutsche Text wurde vor 1868 vom innovativen Leipziger Musikprofessor und Chorleiter Carl Riedel (1827–1888) gedichtet, der unter anderem einen geistlichen Gesangverein gründete und mit diesem zahlreiche klassische und kirchliche Werke zur Aufführung brachte. „Kommet, ihr Hirten“ ist eine freie Umdichtung des tschechischen Weihnachtslieds „Nesem vám noviny“ (Wir bringen euch eine Nachricht), die bei Radio Prague International zum Anhören und Mitlesen verfügbar ist.
Wer mag, kann sich den tschechischen Text mit einer App mehr oder weniger gut übersetzen lassen. Der Inhalt weicht zwar teils deutlich von Riedels deutscher Version ab, jedoch geht es auch hier um die durchs Land schallende Kunde vom Christuskind in Bethlehem, die Anlass zur Freude gibt.
Der erste gedruckte Nachweis von „Nesem vám noviny“ findet sich in einem 1847 in Olmütz (Olomouc, Tschechien) erschienenen katholischen Gesangbuch (Katolícky kancionál); handschriftliche Überlieferungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ergänzen die Quellenlage; vermutlich ist die Weise aber noch älter. Der genaue Ursprung der Weise ist nicht geklärt, jedoch gilt der böhmische Raum als wahrscheinlich.
Unter dem Titel „Die Engel und die Hirten“ wurde Carl Riedels Fassung erstmals 1870 veröffentlicht in dessen Sammlung „Altböhmische Gesänge für gemischten Chor“, also gut 20 Jahre nach dem Abdruck im Olmützer Gesangbuch. Wie bei vielen Liedern ließen Übertragungen in andere Sprachen nicht lange auf sich warten, beispielsweise dichtete Mari Ruef Hofer (1848–1929) 1912 die englische Fassung „Come, All Ye Shepherds“ als Bestandteil ihres Weihnachtsspiels „Story of Bethlehem: A Christmas Play with Music“.
Als kleines Schmankerl hier die niederländische Version „Komt nu, gij herders“, gesungen von der Christelijke Gemengde Zangvereniging de Lofstem aus dem Dorf Emst (Gelderland).
Als Ausgangspunkt zum Weiterlesen sei für dieses Lied der sehr gut belegte deutsche Wikipedia-Artikel empfohlen.
(Christoph Meinel)
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