Aufräumen im Archiv: Ein Einblick

Erstes Sortieren des Notenmaterials aus dem NL Richl, Sommer 2020.
Erstes Sortieren des Notenmaterials aus dem NL Richl, Sommer 2020.

Aufräumen. Einst der Fluch aller Eltern, hat es in Zeiten von Lockdown und Bewegungsradius ganz neue Relevanz gewonnen (für Geschichten von überfüllten Papiertonnen und beeindruckend langen Warteschlangen, wenden Sie sich vertrauensvoll an den Wertstoffhofmitarbeiter Ihrer Wahl). In einem Archiv hat Aufräumen jedoch noch einen grundsätzlich anderen Stellenwert – ein aufgeräumtes und übersichtliches Archiv ist die Grundlage für unsere wissenschaftliche Arbeit. Denn es gilt: Wenn ich nicht weiß, was archiviert ist, dann kann ich es auch nicht zueinander in Verbindung setzen.

Während die Marie-Kondo-Methode* beim Sortieren im privaten Raum** sehr nützlich sein kann, geht man in der Archivarbeit ein wenig anders an den Prozess heran. Dies möchte ich exemplarisch zwei Nachlässen an der Forschungsstelle vorstellen.

Vorsortierung des NL Richl nach Themen.

Der Nachlass des Privatsammlers Franz Richl ist der größte Materialzugang, den die Forschungsstelle seit langem verzeichnet hat und umfasst neben Literatur und Liederbüchern Schallplatten, Fotografien, handschriftliches sowie gedrucktes Notenmaterial und Instrumente. Dies alles ist grob vorsortiert an die Forschungsstelle gekommen. Nach und nach gehen wir das Material durch und ordnen es thematisch. Material mit einer offensichtlichen Provenienz (z. B. Kapellenstempel auf Notenmaterial) wird zusammengehalten. Literatur aus den Fachbereichen der Forschungsstelle (vorwiegend (Popular-)Musikgeschichte, Volkskunde, Landesgeschichte) wird in unser Bibliotheksverzeichnis aufgenommen. Dubletten können an interessierte Kolleg*innen abgegeben werden. Ebenso wird mit dem Audiomaterial (vorwiegend Schellack- sowie Schallplatten) vorgegangen. Historische (Noten-)Handschriften werden (falls rekonstruierbar) in zusammengehörigen Konvoluten in sogenannte Archivkapseln umgezogen. In einem zweiten Schritt werden für die Handschriften von einer Kollegin einzelne Datensätze in unserer Archivdatenbank angelegt und diese mit allen sichtbaren Informationen zu der Handschrift gefüllt (Instrumentation, Genre, Titel, ggf. Hintergrund zum Musikstück, Datierung, Handschrift einer oder mehr Personen, Wasserzeichen, ...). Zusätzlich wird nach Möglichkeit ein Digitalisat angefertigt. Die Herausforderungen des Richl-Nachlasses ergeben sich bereits aus der schieren Größe und Diversität des Materials. Bei vielen Einzelstücken sind auf der Wanderung, die vorerst in der Forschungsstelle endet, die zugehörigen Geschichten verloren gegangen. Es obliegt nun uns, den kleinen Hinweisen zu folgen, die einige dieser Objekte mitbringen (kleinen handschriftlichen Notizen zu Auftrittsgelegenheiten, Stempel oder Sticker eines Instrumentenherstellers aus der Region, eingelegte Rechnungen oder Flyer).

Auf der Suche nach Wasserzeichen im Notenpapier.

 

Datierung in einer Notenhandschrift, zu lesen ist „Karlsruhe 7. Juni 1920“.


Ein wenig anders gehen wir mit unserem jüngsten Projekt vor. Es handelt sich um den Nachlass des Kapellmeisters und Komponisten Bertold Jungkunz (1936–2011) aus Teuschnitz bzw. später Leutkirch im Allgäu. Bertold Jungkunz war der Nachfolger einer Musikerfamilie, bereits Vater und Großvater leiteten in ihrer Zeit Musikkapellen. Über Ingeborg Degelmann wurde 2012 der Kontakt zur Forschungsstelle hergestellt, der Nachlass (vorwiegend Notenmaterial) kam so nach Uffenheim.
Zum Jungkunz-Nachlass kann somit eine gut belegbare Gebrauchsgeschichte festgehalten werden. Zusätzlich scheint es in der Kapelle Jungkunz Standard gewesen zu sein, Notenabschriften regelmäßig zu datieren. So sind Entstehung, (Ab-)Schreibeort und Zeitpunkt sowie Einsatz gut nachzuvollziehen und lassen sich ihrerseits mit dem zeitgeschichtlichen Kontext in Verbindung setzen. Für die Archivierung wird der Nachlass zuerst nach Entstehungsart sortiert (Handschrift vs. Druck). Anschließend werden die handschriftlichen Noten nach Chronologie bzw. Schreiber und Einsatz und Instrumentation (Trauermärsche für Blasbesetzung vs. Streichmusik für Kammerorchester) eingeordnet. Eine Kollegin zieht diese „Stapel“ anschließend in die bereits beschrieben Archivkapseln um und fertigt (aktuell) Notizen mit Inhaltsbeschreibungen an. Sobald diese Vorbereitungen abgeschlossen sind, werden auch hier für jedes Kulturobjekt (das fasst beispielsweise zehn Stimmbücher mit den gleichen Stücken als ein Objekt zusammen) ein Datensatz angelegt, der wiederum mit Informationen zu den Unterobjekten gefüllt wird. Auch hier werden zuerst einmal alle sichtbaren Informationen zusammengetragen.

vorläufige Inhaltsbeschreibung einer Archivkapsel, NL Jungkunz/Teuschnitz.

Eine Dokumentation in unsere Archivdatenbank bieten vor allem zwei Vorteile: Das Material muss nicht bei jeder Gelegenheit herausgeholt und dem Risiko von Luft, Licht sowie menschlichem Versagen ausgesetzt werden. Über die Datensätze sind einfache Gegenüberstellungen von Grundsatzinformationen (wann, wer, wo, wie, was?) möglich. Die Struktur der Datenbank gestattet es, die enthaltenen Daten jederzeit zu ergänzen, sodass das „Wissensnetzwerk“, welches über die Jahre um und mit dem Archivgut entsteht, stetig wachsen und wir Erkenntnisse kontinuierlich besser und tiefer erfassen sowie vernetzen können. Dies ist enorm zeit- und personalaufwendig – und gleichzeitig eine sehr befriedigende und spannende Arbeit. So entdecken wir regelmäßig wahre (Archiv-)Schätze: persönliche Widmungen, mit höchster Sorgfalt erstellte, handgeschrieben Liederbücher, mit Chorälen beschriebene Notentafeln, ein Postkartenset betitelt „Frauen-Liebe und Leben“,  handschriftliche Vermerke in den Noten. Aufräumen in einem Archiv ist an manchen Tagen die persönliche Begegnung mit Geschichte.

Ein Blick in eine weitere Archivkapsel des NL Jungkunz/Teuschnitz.

Merle Greiser
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* Schritt 1: Alles auf einem Haufen zusammentragen. Schritt 2: Alles Stück für Stück durchgehen. Fragen: Nutze ich den Gegenstand? Brauche ich ihn? Verbinde ich so viel mit ihm, dass ich ihn behalten möchte? Schritt 3: Entscheiden: Behalten oder Weggeben. Schritt 4: Für jeden Gegenstand einen Moment innehalten und anerkennen, wofür er nützlich/schön/... war.

** Ein großer Streaming-Anbieter hat eine Dokumentation zu Marie Kondo und vielleicht kann ich bezeugen, dass dies eine motivierende Unterhaltung sein kann, während man jede einzelne Schublade im eigenen Haushalt ausräumt.


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