Grüß Gott dich, schöner Maien!

von Armin Griebel


Dass wir das Lied „Grüß Gott, du schöner Maien“ dem fränkischen Liedersammler Franz Wilhelm von Ditfurth (1801-1880) verdanken, ist kaum bekannt. Ditfurth fand es in einer später verlorengegangenen Nürnberger Handschrift, die er ins 16. Jahrhundert datiert. Entsprechend der Tonangabe: „Ich ging einmal spazieren“ unterlegte er den fünf Strophen eine markante Melodie im phrygischen Modus, die er mit einer, seiner Meinung nach naturhaften, tatsächlich jedoch modernen zweiten Stimme versah. Entnommen hatte er die Weise den „Souterliedekens“ von 1540.

Diese niederländische Sammlung mit Psalterliedern ist eine wichtige Quelle für viele populäre, auch säkulare Melodien der Zeit.


Ditfurths Edition mit 40 Liedern dieser Handschrift (zusammen mit zehn einer jüngeren) erschien gegen Ende seines Lebens mit dem Titel: „Fünfzig ungedruckte Balladen und Liebeslieder des XVI. Jahrhunderts mit den alten Singweisen“ (Heilbronn 1877).



Außerhalb der Fachwelt nahm scheinbar kaum jemand Notiz davon. Fast vier Jahrzehnte später fand das Lied mit der Anfangszeile „Grüß Gott dich, schöner Maie“  Aufnahme in das von Max Friedländer wissenschaftlich begleitete „Volksliederbuch für gemischten Chor“. Das zweibändige Werk mit 604 Liedsätzen war Ergebnis eines ambitionierten staatlichen Projekts zur Rettung des Volkslieds am Ende der wilhelminischen Epoche und erschien vor genau 100 Jahren im Kriegsjahr 1915. Als „Kaiserliederbuch“ war es bei den Chören gut eingeführt und erreichte noch in den 20er Jahren hohe Verkaufszahlen. Unter der Überschrift „Maiengruß“ findet sich das Liebeslied mit leicht modernisiertem Text im vierstimmigen Satz des Komponisten und Musikpädagogen Friedrich Ernst Koch (1862-1927).



Kritisch rezipiert wurde das Kaiserliederbuch durch die musikalische Jugendbewegung. Klemens Neumann (1873-1928), katholischer Priester und in der Erwachsenenbildung engagiert, hat unser Lied von dort in sein Liederbuch „Der Spielmann“ übernommen, wo es gleich am Anfang des Büchleins steht. Ursprünglich für die von ihm mitbegründete katholische Schülerjugend „Quickborn“ geschaffen und im „Verlag deutsches Quickbornhaus – Burg Rothenfels am Main“ verlegt, sollte der Verkaufserlös u.a. dem Ankauf und Ausbau von Burg Rothenfels dienen. Neben dem „Zupfgeigenhansl“ wurde der „Spielmann“ schließlich - über die verschiedenen Lager hinweg - zum verbreitetsten Liederbuch der musikalischen Jugendbewegung. Die 22. und letzte Auflage erschien 1978.

Neumann, der ab der vierten Auflage 1923 vermehrt Lieder des 15. bis 17. Jahrhunderts aufnahm (wie Ditfurth galt ihm diese Zeit als „Blütezeit des deutschen Volkslieds“), übernahm bezeichnenderweise nur die Melodie, nicht den Chorsatz, in sein Liederbuch. Dem Anfang der ersten Strophe hat er mit der Wendung: „... da bist du wiedrum hier“ (statt: „... da du itzt wiedrum hier“) die gültige und seither verbreitete Textfassung gegeben. Schwieriger war die musikalische Seite. Erst für die neunte Auflage 1928 ist eine gültige musikalische Fassung der modalen Melodie gefunden (Veränderungen in der Textaufteilung, der Lautenbegleitung; veränderte Notenwerte und rhythmische Notation im Wechsel von 2/2 und 3/2). Die Korrekturen verdanken sich der Erprobung des Lieds in der Singpraxis und einer zunehmenden Sicherheit im Umgang mit Alter Musik, nicht zuletzt unter dem Einfluss von Walter Hensel und Fritz Jöde.



1977 hat die Folkloregruppe „Elster Silberflug“, eine der maßgeblichen Gruppen des deutschen Folk-Revivals, die Fassung aus dem „Spielmann“ neu aufgegriffen und auf ihre Weise interpretiert. Die Neubesinnung auf das Deutsche Volkslied im Folk-Revival der 70er Jahre setzte, darin der Jugendmusikbewegung ähnlich, bevorzugt auf das Alte Lied. Die phrygische Melodie mit ihrem Mollcharakter bot eine willkommene Alternative zu der durch Schule und Gruppensingen verbrauchten Dur-Fassung.

Bekannt und allgemein verbreitet wurde das Lied nämlich mit einer gänzlich anderen Melodie. In dieser Gestalt findet es sich bis heute in unzähligen Schul- und Gebrauchsliederbüchern. Der neue Texteingang lautet: „Grüß Gott, du schöner Maien“.  In der Fortsetzung heißt es wie bei Neumann: „da bist du wiedrum hier“. Die neu hinzugekommene Melodie, deren Mittelteil wiederholt wird, machte eine  Erweiterung des Textes nötig. Aus „Die Vöglein singen also hell“, wird nun „Die lieben Vöglein alle, sie singen also hell“, dann wird wie bei Neumann fortgesetzt: „Frau Nachtigall mit Schalle hat die fürnehmste Stell.“

Stärker verändert wurde die zweite Strophe, eine Naturstrophe. Statt: „Die Bächlein wie Kristallen rein, die Flüsse einherbrausen im güldnen Sonnenschein“ heißt es nun ab dem Mittelteil: „O holde Luft im Maien, da alles neu erblüht, du kannst mich [bei Schäublin und später meist: mir] sehr erfreuen, mein Herz und mein Gemüt!“ Das ist eine Übernahme aus der dritten Strophe des ursprünglichen Liebeslieds, wo es heißt: „Weiß doch ein schönern Maien, so Sommer und Winter blüht; der kann noch mehr erfreuen mein Herz und mein Gemüt: das ist mit ihrer Augen Schein, mit ihren Rosenwangen ein artig [in der Handschrift und bei Ditfurth auf gut „fränkisch: artlich] Mägdelein.“ Die restlichen Strophen wurden weggelassen.

Die Verkürzung auf die beiden Eingangsstophen macht aus dem Liebeslied, das im „Spielmann“ die erste Abteilung „Naturlieder“ anführt, ein Liedchen, das den Mai besingt, geeignet als Jahreszeitenlied für Schule und Verein. Denkbar wäre, dass die beabsichtigte Umnutzung diese „pädagogisierte“ Fassung hervorgebracht hat. Woher die neue Melodie stammt und wann sie entstand, ist damit nicht geklärt. In unseren Liederbüchern finden sich widersprüchliche Angaben dazu. Eine lautet „Schäublins Chorgesänge 1880“. Die Adaption wäre somit bald nach Ditfurths Edition erfolgt!



Der Basler Lehrer und Musikpädagoge Johann Jakob Schäublin (1822-1901) hatte unter dem Titel: „Chorgesänge. Für mittlere und höhere Lehranstalten, Familien und Vereine“ 1880 eine „gänzlich umgearbeitete Auflage“ seiner „Lieder für Jung und Alt“ vorgelegt. Neu aufgenommen und mutmaßlich hier erstmals nachgedruckt findet sich Ditfurths drei Jahre zuvor publiziertes Lied, jedoch verbunden mit einer anderen Melodie. Auch die Überschrift „Maiengruß“ scheint von Schäublin herzurühren.

Bei der Frage der Entstehung der Melodie bescherte eine Zufallsentdeckung unerwartet die Lösung. Im erwähnten Buch Ditfurths von 1877 ist eines der zehn Lieder aus der zweiten Handschrift mit dem Inzipit: „Ich meint, ich könnt erjagen das Glück zu ebner Erd“ mit der gleichen Dur-Weise verbunden wie Schäublins Chorsatz.

Es ist eines der wenigen Lieder, bei dem der Schreiber der Handschrift nicht eine Tonangabe, sondern die kompletten Noten aufgeschrieben hat. Offenbar war Schäublin, auf der Suche nach einer neuen Weise als Ersatz für die als unpassend empfundene phrygische, im gleichen Ditfurth-Buch fündig geworden! Das würde auch erklären, warum wie in Ditfurths Nr. 46 die Melodie am Ende des zweiten Takts bei „da“ vom c hinab zum h und nicht wie bei der heutigen Fassungen (s.u.) vom a zum h hinauf führt.

Schäublin übernahm auch Ditfurths stereotyp hinzugefügte zweite Stimme, die im Mittelteil harmonisch mehrdeutig ist. Hier greift Schäublin in genialer Weise in die Melodie ein und modernisiert zugleich die Harmoniefolge in ein reines Dur.

Ditfurth hätte somit nicht nur einen erstaunlichen Frühbeleg der Dur-Melodie aus Franken überliefert, sondern in seiner Edition der Nürnberger Handschrift hätten wird die „Urform“ der später so erfolgreichen neuen Maiengruß-Melodie vor uns!



Ohne Hinweis auf Schäublin als Quelle (vielleicht auch nicht direkt von dort) finden wir dessen Liedbearbeitung gut 40 Jahre später in Theodor Ottos Heften „Perlen alter Tonkunst“. Übernommen wurde auch Schäublins Tonsatz für Frauenstimmen, der im Kanon musiziert vierstimmig wird. Aus Schäublins Hinweis: „Nach einer Volksweise des 16.Jahrhunderts bearbeitet von J.J.S.“ wurde: „Nach einer alten Volksweise bearbeitet“, ein Quellenhinweis, der die wahre Herkunft verschleiert und für die Provenienzforschung wertlos, wenn nicht gar irreführend ist.



Die Anregung zu dieser Lied-Recherche verdanke ich Dr. Erich Sepp, der mich im Vorfeld seines Singabends um Informationen zur Überlieferung dieses Liedes bat.

Gewidmet Ingeborg Degelmann zum 13. Mai 2015.

Armin Griebel


Literatur:

- Ditfurth, Franz Wilhelm von: Fünfzig ungedruckte Balladen und Liebeslieder des XVI. Jahrhunderts mit den alten Singweisen. Heilbronn 1877, hier S.38 ff. und  111 ff.

- Griebel, Armin: Artikel Ditfurth, Franz Wilhelm in: Musik in Geschichte und Gegenwart. Personenteil Bd. 5 (2001), Sp. 1105-1108

- Ders: Ditfurth und das fränkische Volkslied. In: Jahrbuch für Volkskunde NF 16 (1993), S. 66-86.

- Holzapfel, Otto: Liedverzeichnis. Die ältere deutschsprachige, populäre Liedüberlieferung [Hildesheim: Olms, 2006], CD-ROM-Update = Februar 2015. Dateien: Lieder, Lexikon, ergänzende Dateien.]

- Neumann, Klemens (Hrsg.): Der Spielmann. Liederbuch für Jugend und Volk. Mainz: Matthias-Grünewald, [1928], [9. Aufl.].

- Otto, Theodor (Hrsg.): Perlen alter Tonkunst. Eine Auslese der schönsten Volkslieder und Kunstgesänge des A-capella-Stils aus dem 13. bis 19. Jahrhundert. Für drei- bis vierstimmigen Frauenchor. Erster Band (Heft 1 bis 12), Berlin-Lichterfelde 1925.

- Schäublin, Johann Jakob: Chorgesänge. Für mittlere und höhere Lehranstalten, Familien und Vereine. II. Bändchen, Basel 1880. https://books.google.de/chorgesngefrmit00schgoog.pdf

- Souterliedekens. Uitgegeven door Elizabeth Mincoff-Marriage. Martinus Nijhoff, Den Haag 1922
http://www.dbnl.org/tekst/zuyl004sout01_01/zuyl004sout01_01.pdf

- Volksliederbuch für gemischten Chor. Partitur. Im Namen der Kommission für das Volksliederbuch hrsg. von Max Friedländer, 2 Bde. Leipzig 1915, Zweiter Band.


Empfohlene Zitierweise:

Armin Griebel: Grüß Gott dich, schöner Maien. Fund und Erfindung, in: Forschungsstelle für fränkische Volksmusik, URL http://www.volksmusik-forschung.de (16.05.2015)