Volksmusikpflege in Franken

von Armin Griebel


In den letzten Jahren haben Begriff und Sache „Volksmusik“ im kulturellen Leben neue Bedeutungsinhalte gewonnen. Ablesbar ist die neue Wertschätzung auch an sprachlich moderner lautenden Varianten wie „Heimatsound“ (Heimatsound-Festival im Passionstheater Oberammergau und Bayern-2-Format), „Sound of Heimat“ (Fimtitel 2012) oder gerade aktuell in diesem Sommer in lapidarer Kürze: „Lokalklang“ (bayernweites Musikfestival, das aus Gründen des Markenrechts die vorgenannten klangschönen Namen nicht verwenden kann). Umso erstaunlicher ist es, wenn ein renommiertes Jazzfestival wie die „Eberswalder Jazztage“ den Themenschwerpunkt Weltmusik 2010 unter dem traditionell klingenden Label „Volksmusik“ darbietet.

Am Anfang dieser Geschichte stand bekanntlich der Begriff „Volkslied“, den Johann Gottfried Herder 1773 „erfunden“ hatte. Ihm ging es vordergründig um die Erneuerung der Dichtung durch sogenannte Natur- oder Volkspoesie. Herders Idee, das Ganze des Volkes sei an der Entstehung dieser Lieder beteiligt, sie seien somit unmittelbar aus dem Wesen des deutschen Volkes hervorgegangen, wurde für die Volksliedbegeisterung der Romantik bestimmend. Als „Deutsches Lied“ spielte es in der Sängerbewegung, eine wichtige Rolle. Diese Vorstellung bestimmte auch, was der Volksliedsammler Franz Wilhelm von Ditfurth für sammelwürdig und veröffentlichenswert hielt (Fränkische Volkslieder 1855), als er sich um 1830 an seinem Wohnsitz Obertheres Lieder von Gewährsleuten aus seiner Umgebung vorsingen ließ. Anfang des 20. Jahrhunderts setzten Lebensreformbewegungen wie die Wandervogeljugend das Singen von Volksliedern den als dekadent empfundenen Entwicklungen in der bürgerlichen Musikkultur entgegen. Analog dazu entstand etwa gleichzeitig die Vorstellung vom „Volkstanz“, als Ursprung und Gegenstück höfischer und bürgerlicher Tanzformen.

Die Wortzusammensetzungen mit „Volk“, die seit der Zeit der Aufklärung und der Romantik Wirkung entfalteten, führen erst spät zur übergreifenden Bildung „Volksmusik“. Offenbar wurde der Begriff erst in der NS-Zeit populär, nachdem er in den 1920er, -30er Jahren ideologisch aufgeladen und mit völkischen Identitätskonzepten verbunden worden war. Volksmusik, verstanden als eine aus dem „Deutschtum“ erwachsene Musik, wurde zum programmatischen Gegenstück der sog. „entarteten Musik“.

Nach 1945 wurde der Volksmusik-Begriff samt seinen ideologischen Implikationen (arteigen, stammesmäßig, echt) in der Volksmusikpflege ungebrochen weiterverwendet. Dass sich die Heimat- und Volksmusikpflege weiterhin an völkischen Kategorien von Volkstum und Heimat orientierte, die zwischen „Volksfremdem“ und „Arteigenem“ unterschieden, ist auch personellen Kontinuitäten geschuldet. Hier betätigten sich in vorderster Linie die im auslandsdeutschen „Volkstumskampf“ erprobten, völkisch geprägten Fachleute aus dem Kreis der Heimatvertriebenen, die Erfahrungen auf dem Gebiet der angewandten Volkstums- und Heimatpflege vorweisen konnten. Der „grenzdeutsche“ Volkskundler Josef Hanika, der auf dem Gebiet der Trachten-, Volks- und Brauchtumspflege zuerst für die sudetendeutsche Volksgruppenführung und nach 1938 im Rahmen des NS-Partei- und Staatsapparats gearbeitet hatte, wurde nach 1945 Geschäftsführer des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege. Erster unterfränkischer Bezirksheimatpfleger wurde der 1903 in Oberschlesien geborene Andreas Pampuch (1955 - 1970). Bis zum Kriegsdienst war er Leiter der Kulturabteilung der Provinzialverwaltung Niederschlesien gewesen. Seit 1935 war er publizistisch für die Propaganda beim „Bund deutscher Osten“ tätig (Pseudonym: Franz Flott). Im Dienst der NS-Propaganda beteiligte sich Pampuch 1941 an der Umsiedlungsaktion der Bessarabiendeutschen und verfasste dazu ein die grausamen Realitäten des Heimatverlusts verschleierndes „Erinnerungsbuch“.

Im Dezember 1959 rief Pampuch eine Arbeitsgemeinschaft „Fränkisches Volkslied“ mit Fachleuten aus ganz Franken ins Leben um ein fränkisches Volksliederbuch für die Heimatpflegearbeit zu schaffen: Ein „Fränkisches Liederbuch“, das 1962 unter diesem Namen erschien, bildete den Auftakt zum geplanten Corpuswerk des fränkischen Volkslieds. Zu  einem „Corpus musicae franconiae“ ist es - auch angesichts des regional differenzierten Reichtums der Überlieferung - bis heute nicht gekommen. Das genannte Büchlein, in dem der Chor- und Musikpädagoge Franz Möckl Tradiertes und Neugeschaffenes vereinte, bildete den gelungenen Anfang einer vielseitigen Publikationstätigkeit im Dienste der Volksmusikpflege in Franken durch die seither geschaffenen Institutionen der Forschung und Pflege.

Anachronistisch und befremdlich nimmt sich daneben der 1957 kolportierte Ratschlag des Erneuerers des Gruppensingens in Oberbayern, Kiem Pauli, aus. Auf die Frage, wie man den Franken bei der Volksmusikpflege helfen könne, überlegte Kiem, ob man nicht eine kleine Volksausgabe – ca. 50 Lieder, zweistimmig – aus der Sammlung Ditfurth herausgeben könnte. Im Bewusstsein des Oberbayern steht die Sammlung Ditfurth, deren Lieder im 18. und frühen 19. Jahrhundert entstanden waren, für ein zeitlos gültiges fränkisches Volkslied. Von den lebendigen Traditionen, die zum Beispiel im „Wirtshausgesang“ bis in die Jetztzeit reichen, erwartete er sich offenbar nur Schwundstufen älterer Lieder oder jüngere Erzeugnisse, die nicht seine Qualitätsansprüche an ein „echtes“ Volkslied erfüllten.

Die Adressaten von Kiems Empfehlung, neu gebildete Volksmusikgruppen in Franken, orientieren sich ohnehin seit Ende der 50er Jahre an Vorbildern aus dem Umkreis der oberbayerischen Volksliedpflege, deren Lieder und Stücke der Bayerische Rundfunk seit 1950 in einer eigenen Sparte Volksmusik verbreitet. Sie übernahmen auf diesem Weg auch deren neue Vorstellungen vom Volkslied nach Franken, selbst wenn sich ihr Sonderkulturbewusstsein im Gegensatz zu Oberbayern wähnte.

Pampuchs Versuch, die beispielhaften oberbayerischen Volksmusikpflegeaktivitäten Wastl Fanderls für seine eigene Volksliedarbeit fruchtbar zu machen, war angesichts unterschiedlicher Voraussetzungen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das gilt ebenso für sein Anliegen, Fanderls oberbayerisch-alpenländisch ausgerichtete „Sänger- und Musikantenzeitung“ als Sprachrohr für die fränkische Volksmusikpflege zu öffnen, worin ihn der Bayerische Landesverein für Heimatpflege unterstützen wollte.

Die Volksmusikpflege in Franken hat sich trotz teilweise obskur anmutender Anfänge gut entwickelt, was unter anderem den drei Arbeitsgemeinschaften Fränkische Volksmusik in den Bezirken Mittel-, Ober- und Unterfranken zu verdanken ist. Zum fränkischen „Kiem-Pauli“ wurde der Volksmusikaktivist und Vollblutmusikant Erwin Zachmeier, der in den 1960er Jahren mit den „Loonharder Musikanten“ eine traditionell anmutende Volksmusik eigener Prägung schuf. Der aus der Nürnberger Trachtenbewegung stammende Sänger, Musikant und Tanzmeister war, als er zum Volksmusikpfleger berufen wurde, schon Vorstand der mittelfränkischen Arbeitsgemeinschaft Fränkische Volksmusik, die 1977 aus einem losen Zusammenschluss mittelfränkischer Volksmusikgruppen hervorgegangen war. Von dieser Doppelfunktion scheinen sowohl Beratungsstelle als auch Arbeitsgemeinschaft profitiert zu haben. Gesteigerte Lehrgangs-, Publikations- und Veranstaltungsaktivitäten für ganz Franken sind zu konstatieren. In den Jahren 1978 und 1979 entstanden in der Folge eine ober- und eine unterfränkische Arbeitsgemeinschaft.

Zachmeier war in der „Arge“ als Vordenker akzeptiert und hat diese Rolle mit programmatischen Aufsätzen in den von ihm begründeten „Fränkischen Volksmusikblättern“ unterstrichen: Die Beiträge „Volkstanz heute“ (1978) oder "Gepflegtes und Ungepflegtes - heute", vorgetragen 1979 beim Seminar Volksmusikforschung und -Pflege in Pappenheim, besetzten in der damaligen Diskussion markante Positionen. Als Volksmusikpfleger setzte er sich vehement für Breitenarbeit ein und wendete sich, was das Tanzen angeht, kompromisslos gegen den Volkstanz als Bühnentanz. Nach Zachmeiers Tod 1991 hat der Landesverein seine Volksmusikpflege in Franken neu geordnet und 1993 in Bayreuth eine zweite Arbeitsstelle geschaffen, die, u.a. mit der Einrichtung eines alljährlichen Konzertinatreffens durch Ingeborg Degelmann, Besonderheiten der Region Rechnung trug. Neue Akzente haben Zachmeiers Nachfolger, Franz Josef Schramm, und Degelmanns Nachfolgerin, Carolin Pruy, gesetzt. Als „work in progress“ soll ihr Wirken hier nicht gewürdigt werden.

Im Frühjahr 2014 hatte Bundespräsident Joachim Gauck anlässlich der Verleihung der Zelter- bzw. Pro-Musica-Plakette in Dresden die Teilhabe Aller an der Musik hervorgehoben. Er hatte gesagt: „Die Musik ist zuerst und zuletzt keine Sache von Profis, so sehr wir uns daran freuen, wenn wir Zeugen glanzvoller oder gar kongenialer Interpretationen werden. Sie ist zuerst und zuletzt Sache der ‚Laien‘, das kommt aus dem Griechischen und meint das Volk“. Daraufhin hatte die „Freie Presse“ getitelt: „Die Musik geht vom Volke aus“. Der Bundespräsident aber hatte seine Deutung biblisch-theologisch von „laós“ als dem „Volk Gottes“ hergeleitet.

Wie steht es um die erwähnte Teilhabe Aller? Sie bietet sich vor allem im Singen, das nicht, wie oft behauptet, aufgehört hat. Gemeint ist das Singen ohne Anspruch auf Kunstmäßigkeit, bei dem die Lust am Ausdruck, am gemeinsamen Singerlebnis im Vordergrund steht, das auch Ungeübten und „Unmusikalischen“ offen steht. In Bayern, besonders in Franken, erleben „Offene Singen“ als „Wirtshaussingen“ seit Jahren großen Zulauf. Wichtig scheint der gesellige Rahmen, den die Wirtsstube bietet, die für Nähe und Gemeinschaft steht. Erwin Zachmeier von der Beratungsstelle für Volksmusik in Franken (Bayerischer Landesverein für Heimatpflege) und seine Mitstreiter aus den  Arbeitsgemeinschaften Fränkische Volksmusik (ARGE) der drei fränkischen Bezirke haben das aus der Jugendbewegung stammende Konzept um „wirkliche“ Wirtshausgesänge erweitert. Seither weicht das vermittelte Sing-Repertoire stark von dem aus Volksmusik-Pflege und -Sendungen des Bayerischen Rundfunks gewohnten Liedgut ab, Geschmacksgrenzen haben sich verschoben. Das heimatpflegerische Prestige der von Landesverein und ARGEs getragenen Singen hat sich auf parallel und unabhängig davon entstehende örtliche Singveranstaltungen in ganz Franken übertragen. Inzwischen dürften sie zahlenmäßig die von ARGEs und Landesverein betreuten Singgelegenheiten überflügeln. Dort wurden und werden die Lieder durch Vor- und Nachsingen ohne schriftliche Vorlage vermittelt. Andernorts wollen die Singleiter diesen zeitaufwendigen, aber für den Liedbesitz unumgänglichen Prozess des Wiederholens als Weg zur Aneignung, sich und ihren singhungrigen Anhängern nicht zumuten, sie singen aus Liedmappen.

Die Singrunden hegen die Vorstellung, dass ihre Lieder alt und wertvoll sind. Dabei geht das bunte Singrepertoire der „Wirtshaussänger“ weit über das hinaus, was die Liedpflege einst als Volkslied definierte. Wenn Urheberrechte bestehen, hat das für den Singgebrauch im Wirtshaus keine Konsequenzen: Das gemeinsame Singen stellt keine Veranstaltung im Sinne der GEMA dar, denn in der Wirtshaussituation gibt es in der Regel keine Trennung zwischen Darbietenden und Zuhörern, das Singen erfolgt nicht für Publikum, sondern zum eigenen Werkgenuss. Indiz für den Bedarf an passenden Liedern mögen die von der unterfränkischen ARGE Volksmusik und der Forschungsstelle für fränkische Volksmusik herausgegebenen „Wirtshauslieder“ sein: über 30.000 Exemplare der beiden Hefte sind im Umlauf.


Empfohlene Zitierweise:

Armin Griebel: Volksmusikpflege in Franken - Miscellen zu einer bayerischen Besonderheit, in: Forschungsstelle für fränkische Volksmusik, URL http://www.volksmusik-forschung.de/