Von der Notenhandschrift zur Onlinepräsenz
Festvortrag anlässlich des Jubiläums 35 Jahre Forschungsstelle für fränkische Volksmusik
von Armin Griebel und Heidi Christ
Wir dürfen Sie einladen, uns auf einem Gang durch 35 Jahre Arbeit an der Forschungsstelle für fränkische Volksmusik zu begleiten. Anhand eines Beispiels lernen Sie unsere Arbeitsfelder und Arbeitsweisen kennen, können mitverfolgen, wie sich die Volksmusik entwickelt und verändert, wie wir mit anderen Institutionen zusammenarbeiten, woher wir unsere Erkenntnisse gewinnen und wie wir sie mit der Öffentlichkeit teilen.
Die Bullenheimer Handschrift
Unser Beispiel kommt als unscheinbares Heftchen daher. Auf dem Titelblatt ist zu lesen: "Noten-Buch für Johann Georg Hannamann, Bullenheim 1821". [Abb .1]
Abb. 1: Titelblatt der Bullenheimer Handschrift "Notenbuch für Johann Georg
Hannamann".
1978 war Konrad Bedal bei Hausforschungen zwischen Main und Steigerwald in der Enheimer Mühle auf einen Schrank voller Noten gestoßen. Unsere Forschungsstelle gab es noch nicht, und so meldete Bedal, der frühere Leiter des Fränkischen Freilandmuseums Bad Windsheim, seinen Fund an das Institut für Volkskunde in München. Dort war 1972 eine Stelle geschaffen worden, die bis zu ihrer Auflösung nach rund 35 Jahren bayernweit mit der Volksmusikforschung betraut war.
Wolfgang Mayer hatte diese Stelle inne. Er kam und sichtete zusammen mit dem gerade frisch zum fränkischen Volksmusikpfleger berufenen Erwin Zachmeier die Notenstapel. Sie gehörten zur Hinterlassenschaft des Musikers Hans Dahlfeld aus dem unterfränkischen Marktbreit. Dessen Frau stammte aus dem Bauern-Anwesen Enheimer Mühle. Als sein Schwager im 2. Weltkrieg gefallen war, zog Dahlfeld mit seiner Frau auf die Enheimer Mühle und machte den Bauern, daneben war er Musiker und Hausmetzger.
Inmitten dieser Noten steckte die Handschrift, die im frühen 19. Jahrhundert für einen Musiker aus dem 8 km entfernten Bullenheim angelegt worden war. Bullenheim, 10 Autominuten von Uffenheim, rühmt sich heute, der Weinort mit der größten Rebfläche Mittelfrankens zu sein.
Erwartungen und Überraschungen
War das, was mit kräftigen Strichen auf durchscheinendem Papier festgehalten ist, die Musik, die Anfang des 19. Jahrhunderts auf ländlichen Tanzböden in Franken erklungen ist? Die Erwartungen waren hoch gesteckt. 1979, beim 2. Seminar "Volksmusikforschung und Pflege. Probleme der Volksmusik am Beispiel Mittelfranken", das der Bayerische Landesverein für Heimatpflege zusammen mit dem Institut für Volkskunde bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften veranstaltete, wurde der Fund kurz vorgestellt. Es stellte sich heraus, dass die Stücke trotz ihrer modernen Namen wie Walzer und Ländler nicht zeitgenössische Tanzmusik repräsentieren, sondern in Melodik und harmonischem Aufbau eher an Deutsche Tänze und Allemanden erinnern, wie sie ein bis zwei Generationen zuvor in Gebrauch waren.
Die ersten 7 Stücke, für zwei Klarinetten notiert, hat Erwin Zachmeier 1982 in den "Fränkischen Volksmusikblättern" abgedruckt, als Angebot für die Volksmusikpflege. 1985 zeigte die Staatsbibliothek in München die Handschrift in einer Ausstellung. Im Katalog dazu fielen die Forschungsergebnisse von 1979 unter den Tisch. Stattdessen liest man die einigermaßen banale Feststellung, dass sich die 57 Stücke wesentlich von den Tanzmelodien der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts unterscheiden.
Wiederingebrauchnahme der Handschrift
Wahrscheinlich hätte das Notenheft in München nun einen langen Archivschlaf angetreten, doch inzwischen hatten die fränkischen Bezirke die Forschungsstelle für fränkische Volksmusik ins Leben gerufen. Mit der Absicht, die Bullenheimer Handschrift zu veröffentlichen, hatte Horst Steinmetz, der erste Leiter der Forschungsstelle, sie zumindest als Kopie wieder nach Franken geholt. Und er hat sie im Gründungsjahr als erstes Heft einer Reihe mit Instrumentalnoten herausgegeben, ergänzt durch einen Beitrag zur Musikpraxis in Bullenheim. Für Steinmetz, der sich schon als Bad Windsheimer Sänger für die älteren Schichten der Volksmusik interessierte, war es sicher eine programmatische Veröffentlichung.
Neue Möglichkeiten
Wie ist es nun dazu gekommen, dass wir im vergangenen Jahr die Bullenheimer Handschrift wieder einmal näher angeschaut haben? Unser Freund und Kollege Jürgen Schöpf ist – wenn man so will – schuld daran. Er hatte im Rahmen eines Lehrauftrages an der Universität Eichstätt im Volkskundemuseum Treuchtlingen zwei Musikhandschriften aus den Jahren 1829 und 1830 entdeckt. Er hat uns dazu eingeladen, "seine" Treuchtlinger und "unsere" Bullenheimer Handschrift bei der Jahrestagung des Nationalkomitees Deutschland im ICTM unter dem Tagungsmotto "Sammeln, Bewahren, Nutzen. Musiktraditionen und ihre inventiven Chancen" vorzustellen und öffentlich zugänglich zu machen. 2015 haben wir die Quelle für das Trio zum Titel auf Seite 19 gefunden. "Ich bin ia nur ein Mädgen vom Lande" lesen wir dort. Google-Books macht es im 21. Jahrhundert möglich, dieses Lied dem Singspiel "Idoly oder der Fürst der höllischen Finsternis" zuzuordnen, das nachweislich in der Saison 1803/04 am Theater Würzburg aufgeführt worden ist. Die Arie aus dem Singspiel, in dem sich das arme Mädchen Idoly Intrigen des Satans ausgesetzt sieht und deswegen vom Land an den Hof des Prinzen Kollmar kommt, war wohl seinerzeit ein Hit. Im Text entschuldigt sich Idoly bei Hofe für ihre ländliche Herkunft und bittet darum, sie geduldig zu "polieren" und zu "dressieren", "sonst schaut mir die Bäurin heraus". In einer späteren Fassung, die wir aus Handthal kennen, wurde der Text derart abgeändert, dass durch Zufügen von vier weiteren Strophen ein "Lob des Bauernstandes" daraus wurde; der Bauernstand als das Idealbild von "Friede und Eintracht" gegenüber der dummen und verderbten Stadt: "Zufriedenheit wohnt auf dem Lande – in Städten ist sie nicht zu Haus."
Kunstmusik oder Volksmusik?
Gleich das erste Stück der Bullenheimer Handschrift, überschrieben "Ländler", ist in den ersten acht Takten vom Trio der 1788 entstandenen Sinfonie in Es-Dur, KV 543, von Wolfgang Amadeus Mozart inspiriert. [Abb. 2] Seit dem 19. Jahrhundert gibt es die Vorstellung, Mozart habe für seine Kompositionen Anleihen bei der Volksmusik gemacht. Neuere Forschungen zeigen, dass es eher umgekehrt ist. Auch unsere fränkische Handschrift ist ein Beleg für den Weg von der Hochkunst zur Volksmusik.
Abb. 2: "Ländler Nr. 2" aus der Bullenheimer Handschrift.
Sie sehen das Stück aus einer Tanzsammlung, die um 1800 in München in Gebrauch war. [Abb. 3] Sie ist ein mögliches Zwischenglied zwischen dem originalen Mozart-Thema und der weiter veränderten Version in Bullenheim. Auch andere frühe Noten mit Tanzmusik, wie die 1784 begonnene Handschrift aus Seibis im oberfränkisch-thüringischen Grenzraum,verwenden Themen aus Opern, besonders von Mozart. Die Seibiser Handschrift liegt in der Villa Marteau beim Bezirk Oberfranken und Ulrich Wirz hat dazu in einem Beitrag für die Festschrift des Bamberger Volkskundlers Klaus Guth festgestellt, dass die Seibiser Noten drei Generationen als Violinschule dienten. Nachzulesen im gerade erschienenen 159. Heft der "Fränkischen Volksmusikblätter".
Abb. 3: Trio aus einer Sammlung von Allemanden, um 1800 in München in
Gebrauch.
Auch für unsere Handschrift darf man vermuten, dass sie nicht primär für den Tanzbodengebrauch gedacht war, sondern als Unterrichtsmaterial oder zur Hausmusik.
Hausmusik
Sie erinnern sich, 1982 hat Erwin Zachmeier die ersten Notenbeispiele aus der Bullenheimer Handschrift in den Volksmusikblättern veröffentlicht. Seine Frau Renate hat schon damals in der Stubenmusikbesetzung "Steinrother Hausmusik" mitgespielt. Genau konnten sich Renate Zachmeier und Gudrun Lachmann nicht mehr erinnern, wann und wie sie die Noten für ihre Musikgruppe entdeckt haben, ob aus den Volksmusikblättern oder direkt von Erwins Schreibtisch. Max Peter Baumann, gerade frisch installiert an der Universität Bamberg als Professor für Volksmusik mit besonderer Berücksichtigung des fränkischen Raumes, hat die Fränkische Weihnacht in Nürnberg 1982 besucht und aufgenommen. Bei dieser Veranstaltung hat die "Steinrother Hausmusik" den eben genannten ersten Ländler aus der Bullenheimer Handschrift gespielt. [Tonbsp. 1] 2013 ist diese zusammen mit weiteren Aufnahmen vom Bamberger Lehrstuhl an unserer Forschungsstelle digitalisiert worden. Baumanns Feldaufnahmen stehen damit auch, trotz der andauernden Vakanz auf dem inzwischen nach Würzburg umgesiedelten Lehrstuhl, weiteren Untersuchungen zur Verfügung.
Mitte der 1990er-Jahre initiierte Emil Händel als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Fränkische Volksmusik Bezirk Mittelfranken eine kleine Veröffentlichungsreihe mit Instrumentalnoten. Aus seiner langjährigen Erfahrung als Volksmusikredakteur beim BR hatte er dabei im Blick, dass Viele gern gerade jene Titel spielen wollten, die sie aus dem Radio kennen. Die "Steinrother Hausmusik", aus deren Repertoire 1996 die Publikation "Saitenklänge" entstanden ist, hat auch 15 Jahre nach der Erstaufführung den Ländler Nr. 1 aus der Bullenheimer Handschrift dazugetan. Unter den insgesamt 15 Titeln ist mit dem Ländler Nr. 29 ein zweiter "Bullenheimer" vertreten.
Abb. 4: "Dreher Nr. 12" aus der Bullenheimer Handschrift.
Der zweite Teil erinnert ein wenig an Mozarts "Kleiner Nachtmusik".
Kreativer Umgang mit den Melodien
Vor allem junge Volksmusikgruppen griffen nach den frühen Publikationen von Horst Steinmetz. Eine davon war die "Ronhofer Bock- und Leiermusik". Mit Klarinetten, Dudelsack und Streicherbegleitung war die Gruppe um Friederike Gollwitzer – 1983 Kulturförderpreisträgerin des Bezirks Mittelfranken – 1982 und 1983 beim Steirischen Geigentag aufgeschlagen und hatte dort mit dem Dreher Nr. 12 aus der Bullenheimer Handschrift Furore gemacht. Die Melodie des zweiten Teils hatte einen Exkurs in Mozarts "Kleine Nachtmusik" nahegelegt. [Abb. 4] Und mit dieser Mozart-Einlage übernahmen Musikanten der österreichischen Tanzgeiger-Szene um Rudi Pietsch und Hermann Härtel nun das Stück beim Geigentag.
Im Jahr 2006, pünktlich zu Mozarts 250. Geburtstag, fand sich das Stück, das nun schon eine Generation bei der Familie Härtel in Graz in Gebrauch war, im Bühnenprogramm eines österreichischen Girlie-Streichquartetts. Die Gruppe mit dem rückwärts lesbaren Namen "Netnakisum" hatte den Dreher aus Franken, der in der österreichischen Tradition zur Polka geworden war, unter der Bezeichnung "Mozartpolka" in die "Liga" der Popmusik eingebracht. [Video]
2012 hat sich das "Bayerische Kammerorchester Bad Brückenau" (BKO) für das Konzertprojekt "Von der Volksmusik zur Klassik" im Notenarchiv der Forschungsstelle umgeschaut. Claus Kühnl ließ sich von Motiven aus der erwähnten Seibiser Handschrift zu einer zeitgenössischen Komposition für das BKO inspirieren. Ausgewählt wurde auch ein Ländler aus dem Bullenheimer Heft. [Abb. 5] Der Ländlertanz, der im 18. Jahrhundert vom Land in die städtischen Salons gekommen war, kehrt im 19. Jahrhundert von dort auf den dörflichen Tanzboden zurück. In vielen Gegenden gab es zur gleichen Zeit den Ländlertanz noch in originaler Form. Karl Edelmann hat das Bullenheimer Stück im Stil der Wiener Klassik arrangiert. Im neuen Gewand schaffte es nach fast 200 Jahren mühelos den Weg zurück auf die Konzertbühne der Hochkultur. [Tonbsp. 2]
Abb. 5: "Ländler Nr. 20" aus der Bullenheimer Handschrift. Ausgewählt für das
Konzertprojekt "Von der Volksmusik zur Klassik".
Wer "Boxgalopp" sagt, meint auch Antistadl und umgekehrt. Das Musikerkonglomerat "Boxgalopp" – so beschreiben sie sich selbst – hat sich dem wilden, frechen und ungestümen Musizieren verschrieben. In der Tradition der Musikanten vergangener Generationen greifen sie Melodien aus Franken und anderen Regionen der Welt auf, verpanschen sie im großen "Volxmusik-Kochtopf" und zaubern daraus wunderschöne Musikstücke zum Tanzen, Zuhören und Mitsingen. Kein Wunder, dass auf ihren Veranstaltungen 20- bis 80-Jährige fröhlich durcheinander hüpfen und miteinander tanzen. Das können Sie im Internet nachlesen. Mitglieder von "Boxgalopp", wie auch andere Interessenten, kommen regelmäßig nach Uffenheim, stöbern in unserer Bibliothek und unserem Notenarchiv – und nutzen gekonnt das enorme Potenzial der Melodien, auch aus der Bullenheimer Handschrift. [Abb. 6, Tonbsp. 3]
Abb. 6: Gruppen wie "Boxgalopp" nutzen die Archivschätze der Forschungsstelle
und gestalten daraus mit viel Kreativität Neues, wie z.B. mit dem "Ländler Nr. 4"
aus der Bullenheimer Handschrift geschehen.
Resümee
Sie haben bemerkt, es lohnt sich immer, Dinge noch einmal in die Hand zu nehmen, die vermeintlich alles erzählt haben, über die man glaubt alles zu wissen. In den letzten 35 Jahren hat sich unser Wissen um die Volksmusik in Franken erweitert; der Umgang der Musizierenden mit den überlieferten Noten und Klängen ist ständigen Veränderungen unterworfen. Wir haben unsere Archivschätze und Erkenntnisse bisher überwiegend auf dem Papier weitergegeben und einige wenige Notenhandschriften zum Download angeboten – Sie finden zum Beispiel die erwähnten Handschriften aus Treuchtlingen, und auch die Bullenheimer Handschrift können wir mit freundlicher Genehmigung des Institus für Volkskunde wieder auf unserer Internetseite www.volksmusik-forschung.de bereitstellen. Ab heute beschreiten wir den für uns neuen Weg, indem wir Auszüge aus unserer Datenbank im World Wide Web veröffentlichen.
Die schriftliche Fassung des Vortrages wurde zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift "Volksmusik in Bayern", hrsg. vom Bayerischen Landesverein e.V., München, 33. Jahrgang, 2016, Heft 4.
Empfohlene Zitierweise:
Armin Griebel, Heidi Christ: Von der Notenpublikation zur Onlinepräsenz. Festvortrag anlässlich des Jubiläums "35 Jahre Forschungsstelle für fränkische Volksmusik", in: Forschungsstelle für fränkische Volksmusik, URL http://www.volksmusik-forschung.de/ (16.12.2016)